Wand tanzt mit Hand

Mene, mene

Sprechende Wände sind eine Seltenheit. Doch dieser Homepage gelang es, einer Wand etwas zu entlocken. Und die hat tatsächlich etwas zu erzählen.

«Eigentlich bin ich fast wie jede andere auch. Man schaut mich an, manchmal durch mich hindurch – meinen die Leute jedenfalls – oder man beachtet mich gar nicht. Nun, ganz wie jede andere bin ich aber doch nicht. Ich bin prächtiger, und ich sage das, ohne überheblich zu werden. Es ist einfach so. Häufiger angeschaut werde ich aber trotzdem nicht, bis auf ein paar bewundernde oder eigentlich ehrfürchtige Blicke ab und zu. Leider werden die schon wieder weniger. Im grossen und ganzen lebt man an mir vorbei. Ob den Leuten der Schrecken halt doch noch in den Gliedern steckt und sie mich drum meiden? Denn einmal, einmal stand ich wirklich ganz im Zentrum des Interesses. Ja, ich machte sogar „grosse Politik“!

Orientalische Snobs

Es ist eine Geschichte, die man sich heute noch erzählt. – Ach ja, Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Jolanda, eine der meist gutgelaunten, riesigen Wände in einer unglaublich grossen Empfangshalle im babylonischen Reich.

Also: Der Abend begann wie so viele andere. König Belsazar feierte eine rauschende Gala. Tausende wichtige Leute waren da. Manche, so schien es mir, glaubten wohl einfach sie seien wichtig. Aber da habe ich nichts dazu zu sagen. Wer hört schon auf eine Wand?

Die Stimmung wurde zusehends ausgelassener. Der Wein floss in Strömen, und die Musik war fröhlich. Beinahe hätte ich auch mitgewippt, aber ich konnte mich dann gerade noch zurückhalten. Ansonsten wäre das Fest wohl etwas früher zu Ende gegangen.

Achtung, heilige Kelche

Wegen diesen Gedanken grinste ich noch so vor mich hin, als Aufschreie, vermischt mit lautem Gelächter, alles andere übertönten. Hatte ich mich etwa vergessen und doch zu sehr mitgewippt? Nein, ich schaute an mir herunter. Ich stand noch immer fest da. Beunruhigt blickte ich dafür in die Richtung, wo der zusätzliche Lärm herkam. König Belsazar sprach mit seinen Leuten dem Wein in vollen Zügen zu. Und sie tranken ihn aus den heiligen Kelchen der Hebräer, aus den mystischen Gefässen, die man ihnen aus dem Tempel in Jerusalem gestohlen hatte. Ich bin ja keine fromme Wand. Logisch, denn ich stehe ja nicht in einer Kirche. Aber das gefiel mir denn doch nicht. Besonders als Belsazar nun noch mit diesen Kelchen auf einige grausige Götter anstiess.

Wand tanzt mit Hand

Doch dann musste ich einfach nur noch lachen. Etwas kitzelte mich am Bauch. Als ich mich wieder erholt hatte, war es totenstill im Raum. Alle starrten mich entsetzt an. Hatte ich mich etwa bewegt? Nein. Alle schauten dorthin, wo es mich kitzelte. Doch nun erschrak auch ich: Eine riesige – wirklich eine r-i-e-s-i-g-e – Hand bewegte sich direkt vor mir auf und ab. Arm oder sonstige Körperteile waren nicht zu sehen. Nur der Finger war ausgestreckt und schrieb etwas auf mir. Dann war sie weg.

Der König war mittlerweile so blass, wie der Bauch eines Pinguins. Er stotterte, man solle ihm seine Wahrsager und Sterndeuter bringen. Alle stierten mich an, auch die herbeigezerrten Esoteriker. So viel Aufmerksamkeit war mir nicht recht. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich rot angelaufen.

«Mene, mene ... »

Aber keiner fand heraus, was da auf mir geschrieben stand. Hatten die alle, samt dem König, zu oft die Schule geschwänzt? Dann hörte ich, wie sie «Daniel» riefen. Wie auch schon den anderen Männern davor versprach ihm der König, dass er ihn mit Gold überschütten und in Purpur kleiden und zum dritthöchsten Mann im Reich ernennen würde – wenn er ihm nur sagte, was da auf mir drauf stand.

Daniel schaute mich an. Er gehörte zu jenen Hebräern, die hierher in die Diaspora verschleppt wurden. Und er begann zu entziffern: «Mene, mene, tekel upharsin!» Daniel wandte sich an den König: «Das heisst: Gezählt, gezählt, gewogen und geteilt.» Daniel führte dem verdutzten König aus: «Mene bedeutet: Gott hat die Tage gezählt, in denen du noch König bist. Sie gehen zu Ende. Tekel bedeutet: Du bist gewogen worden. Aber du bist zu leicht. Upharsin heisst, man wird dein Reich unter die Meder und Perser aufteilen.»

Was sollte der König dazu sagen? Kreidebleich lag er immer noch herum auf seiner Orgien-Matte. Aber irgendwie muss er gespürt haben, dass Daniel recht hatte. Jedenfalls machte er sein Versprechen wahr und setzte Daniel auf Platz drei im Land. Wo er allerdings nicht lange blieb. Noch in der gleichen Nacht rückte er einen Platz auf, denn der stolze Belsazar, die „Nummer 1“ – für mich war er ja immer eine Null; man verzeihe mir diese Respektlosigkeit –, starb noch in der gleichen Nacht. Eine Armee war in sein Land eingefallen und hatte ihn erwischt.

Können Sie nun verstehen, dass viele Menschen seitdem etwas zwiespältig an mir vorbeihuschen? Sie könnten mir ja dankbar sein, dass ich geholfen habe, diesen Schurken abzuschütteln. Gut, ich war dabei eher passiv. Aber ohne mich ging’s jedenfalls nicht. Nein, statt dass sie dankbar wären, drucksen sie um mich herum. Naja, ich selber weiss wenigstens, wozu ich gut war.

Datum: 12.02.2006
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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