Noch kein Urteil in Malatya

Christen in der Türkei als Zielscheibe von Nationalisten

Im Mordprozess von Malatya interessieren besonders die Motive der Täter und ihre Nähe zu Nationalisten. Denn die türkische Justiz hat anderswo pensionierte Militärs und Polizeichefs angeklagt. Sie sollen sich aus nationalistischen Motiven gegen den Staat verschworen haben, in dem derzeit die Islamisten der AKP das Sagen haben.
Blick über die Stadt Malatya im Südosten der Türkei. (Foto: Wikipedia / okandemir)
Die drei in der Türkei ermordeten Mitarbeiter eines christlichen Verlages: Necati Aydin, Tilman Geske und Ugur Yuksel (von links).

Die Meldung ging um die Welt: Am 18. April 2007 wurden in Malatya im Südosten der Türkei die drei Christen Necati Aydin, Ugur Yüksel und Tilmann Geske brutal ermordet. Die Anwälte der Opfer haben das Verbrechen eingereiht in eine Serie von Attacken auf Christen im Land, die eine nationalistische Urheberschaft aufweisen. Vor der Untat am 18. April 2007 intensivierte sich die Kampagne gegen missionarische Aktivitäten von Christen. Sie gefährdeten den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Türkei, hiess es. Was allein schon wegen der Zahlen ein Unsinn sein muss: Unter 70 Millionen Türken leben weniger als 5000 türkischstämmige Christen.

Teil eines grösseren Ganzen

Der Haupttäter Emre Günaydin, der vier Kollegen zum Mittun motivierte, hatte engen Kontakt zur Polizei gepflegt. Im Lauf des Verfahrens sind zahlreiche Verbindungen zwischen dem Verbrechen in Malatya und ultranationalistischen Aktivitäten im Rest des Landes zu Tage getreten. Diverse Personen sind wegen solcher Aktivitäten im sogenannten Ergenekon-Netzwerk festgenommen worden. Vor dem Gericht in Malatya stellten Zeugen eine Verbindung zu einer geheimen Antiterrorismus-Abteilung im Polizeiapparat her. Der pensionierte Polizeigeneral Veli Kucuk, der sie mitgegründet haben soll, spielte eine führende Rolle in der antichristlichen Hetze in Istanbul, welche der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 voranging.

Ein Geheimplan

Aufgrund dieser und vieler weiterer Fakten und Indizien haben die Anwälte der Opfer die Justiz im April 2010 ersucht, das Malatya-Verfahren und einen der Ergenekon-Prozesse zusammenzulegen.  Sie verwiesen auf einen geheimen Plan von Militärs, mit der Einschüchterung und Ermordung von Nicht-Muslimen eine chaotische Stimmung im Land herbeizuführen und die Regierung zu schwächen. Der Plan wurde 2009 bekannt. Im ersten Abschnitt des einschlägigen Dokuments sind die Morde am katholischen Priester Santoro in Trabzon, an Hrant Dink in Istanbul und an den drei evangelischen Christen in Malatya als «Operationen» bezeichnet.

Die Ermordeten als Terroristenfinanzierer verunglimpft

Dass sich der Prozess gegen Emre Günaydin und die vier Mitangeklagten in Malatya hinzieht, hat mit diesen Verflechtungen zu tun. Das Gericht hat laut dem türkischen Onlinedienst «Today’s Zaman» über die Zusammenlegung noch nicht entschieden. An letzten Verhandlungstag des vergangenen Jahres im Dezember unterstellte ein neuer Verteidiger den ermordeten Christen ein weiteres Mal, dass sie «planten, unsere Religion zu eliminieren, unser Land spalten, unsere Leute mit Schmiergeldern korrumpieren und Terror-Organisationen finanziell unterstützen» wollten. Um die Richter einzuschüchtern, verstieg sich der Verteidiger zur Behauptung, dies sei ein „protestantisches Gericht“.

Gegen die Annäherung an die EU

Der türkische Jorunalist Adem Yavuz Arslan hat in einem neuen Buch Belege für die These beigebracht, dass der Mord von Hrant Dink von Hintermännern genau geplant wurde. Auch Arslan zieht eine Verbindung zu Malatya. Gemäss dem Autor wollen die türkischen Ultranationalisten, indem sie die Regierung Erdogan diskreditieren und Muslime gegen Christen aufbringen, die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei torpedieren. Denn Erdogan benutzt den von Brüssel aufgebauten Druck, um im Land die Vorherrschaft der Militärs, die sich als die Erben von Staatsgründer Kemal Atatürk verstehen, zu brechen. Die Ergenekon-Verschwörung – so sie denn eine ist – dürfte ihm dabei gelegen kommen…

Datum: 25.01.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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