Mit Gott durch die tiefsten Tiefen

«Eines Tages sah Ruth ein ganz helles Licht...»

Lange hoffte die ganze Familie, dass Gott ein Wunder tut. Doch am 10. März 1996 ist Ruth Fischer nach schwerem Krebsleiden gestorben. Nun berichtet Gerhard Fischer in einem neuen «Debattenbuch zur Sterbehilfe» über den Leidensweg und das Sterben seiner ersten Frau. Und über Gottes gnädiges Durchtragen.
Gerhard Fischer erlebte es: «Gott trägt durch alles hindurch.»

Wie möchten Sie sterben?
Gerhard Fischer: Ich möchte am liebsten einmal im Obstgarten dahinsinken, im Frieden mit Gott und den Menschen natürlich.

Wie möchten Sie unter keinen Umständen sterben?
Sicher nicht durch die Hand eines Sterbehelfers, sondern begleitet von liebevollen Händen, die mich auf dem letzten Weg nicht allein lassen.

In einem neuen «Debattenbuch» zum Thema «Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende» schreiben Sie über das schmerzvolle Sterben Ihrer ersten Frau Ruth. Wie schwer ist Ihnen diese Aufarbeitung gefallen?
Es ging relativ gut. Es kam schon manches wieder herauf und es gab durchaus Tränen. Das gehört bis heute dazu. Doch es tat auch gut, mich nochmals vertieft mit dem ganzen Geschehen zu beschäftigen. Es war ein Stück Lebenshilfe für mich. Und ich empfand es auch als Bestätigung meines Weges, indem ich mich stark für ein würdevolles Sterben einsetze.

Welches waren Ihre ersten Erfahrungen mit dem Sterben?
Meine Schwester Ruth, die ein Jahr jünger war als ich, hatte Leukämie. Sie ist mit zehn Jahren gestorben. Da habe ich schon gemerkt, wie wichtig es ist, dass man einen sterbenden Menschen als Familie liebevoll begleitet.

Welche Spuren hat dieses Sterben in Ihrem Leben hinterlassen?
Schon als Kind ist mir bewusst geworden, dass das Sterben zum Leben gehört. Auf einem Bauernhof erlebt man es ja noch viel intensiver, wie Leben entsteht und auch vergeht. Das Sterben hat damals für mich von seinem Schreck verloren. Ich sah, dass auch ein junger Mensch hoffnungsvoll sterben kann. Die letzten Worte meiner Schwester waren: «Der Heiland holt jetzt sein Schäfchen heim.» Bei mir ist damals die Gewissheit stark gewachsen, dass das Leben erst nach dem Tod richtig anfängt.

War das Sterben dann in Ihren ersten Ehejahren ein Thema?
Direkt nicht. Wir waren voller Pläne, haben vieles angepackt, waren auch sehr gefordert. Wir waren gepackt von einer total positiven Lebenseinstellung und stark geprägt vom Glauben. Schon früh waren wir für andere Menschen da. Ich engagierte mich bereits mit 23 Jahren in einer Behörde und gehörte schon mit 25 dem Ältestenrat unserer Gemeinde an. Und wir haben immer wieder randständige junge Menschen in unsere Familie aufgenommen.

Was ist in Ihnen vorgegangen, als Sie 1991 von der Diagnose eines schwarzen Melanoms bei Ihrer Frau hörten?
Aufgrund der ärztlichen Diagnose habe ich sofort gemerkt, dass es ein schlimmer Krebs war. Das hätte ich total nie erwartet. Für mich war es viel schlimmer als für meine Frau. Sie sagte: «Du glaubst doch nicht, dass das der Tod sein könnte!» Sie war eine kräftige und sehr engagierte Frau. Sie hatte mit 17 schon einen schweren Töffliunfall erlebt und lag danach mehrere Tage im Koma. Dass sie weiterleben durfte, war ein Wunder. Doch von da an gehörte das Kopfweh zu ihrem Leben.

Was hat Sie durchgetragen in der folgenden Zeit?
Die Hoffnung, dass Gott ein Wunder tut. Gleich haben viele Leute für Ruth gebetet, in der Familie, der Verwandtschaft, der Gemeinde. Nachdem ein grosses Hautstück wegoperiert worden war, fielen die nächsten Untersuchungen ja positiv aus. Es ging fünf Jahre gut. Ruth klagte zwar hie und da über wahnsinniges Kopfweh, dem wir zu wenig Beachtung geschenkt haben. Doch sie war ein starker, sehr ausgeglichener Mensch.

Wann kam der nächste grosse Tiefschlag?
Das war vor Weihnachten 1995. Ruth sagte plötzlich, mit ihren Augen stimme etwas nicht mehr. Sie sah die Texte nicht mehr genau. Zu Beginn des Jahres 1996 wurde sie von heftiger Übelkeit gepackt. Der Arzt war sehr besorgt und wies sie sofort ins Spital ein. Die Diagnose: Mehrere Hirntumore! Ich war völlig erschlagen. Ich meinte, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Wir hatten fünf Kinder, das jüngste nicht mal zehn. Das war happig. Der Arzt im Spital erklärte, wir müssten selber entscheiden, wie es weitergehen solle. Wir entschieden uns, doch noch zu bestrahlen.

Damit wuchs Ihre Zuversicht?
Meine Frau war voller Zuversicht. Sie sagte: «Das kommt schon gut!» Doch sie wurde immer schwächer. Die Schmerzen nahmen stark zu. Als ganze Familie haben wir die Zeit zum Reden genutzt. Es war enorm wichtig für die Kinder, zu sehen, dass das Mami eigentlich bei uns bleiben möchte. Doch nach acht Wochen, am 10. März 1996, ist Ruth daheim gestorben, gerade erst 45 Jahre alt.

Die Ärzte hatten uns darauf hingewiesen, dass sich ihre Persönlichkeit noch stark verändern könnte. Das hat nur in geringem Mass stattgefunden. Am Schluss konnte sie aber nicht mehr richtig mit uns reden. Doch eines Tages rief sie mich plötzlich zu sich in die Stube. Dort, hinter einer Wand, sehe sie ein ganz helles Licht. Das war ihre Perspektive. Einen Tag vor dem Tod hielt ich sie in den Armen. Ich flüsterte ihr zu: «Für dich wird nun alles gut ...» Und da, mit einem Mal, unverhofft, strich sie nochmals liebevoll fein und sachte über meinen Nacken.

Wie konnten Sie Ihre Kinder in dieser Zeit aufrichten?
Das war ganz unterschiedlich. Die einen wollten viel mitbekommen und ganz nah bei ihrem Mami sein, andere hielten sich eher zurück. Wir haben viel miteinander geredet und einander gestärkt. Es war wichtig, dass wir den Kindern immer wieder sagen konnten, dass zwischen ihnen und Mami gar nichts mehr ist. Es war alles geklärt. Wo es noch notwendig war, hatten wir einander vergeben.

Wie oft haben Sie mit Gott gehadert?

Ich könnte nicht sagen, dass ich das getan habe. Ich habe Gott gesagt, dass ich ihn in manchem nicht verstehe. Mir kamen Aussagen von Hiob in den Sinn, als er Gott alles klagte und auch das nicht zurückhielt, das er nicht verstehen konnte. In der Nacht, um 1 Uhr, als Ruth starb, sagte die Frau, die oft bei ihr war und sie begleitete: «Komm, wir schauen in die Losung!» Und da stand: «Lass dein Weinen und Schreien, deine Mühen werden noch belohnt werden.» Daneben stand dieser Vers aus dem Römerbrief: «Wie wir am Leiden teilhaben, werden wir auch an der Herrlichkeit teilhaben.» Und dauernd hat mich in dieser Situation ein Lied begleitet: «Gib dich zufrieden und sei stille.»

Sahen Sie einen Sinn hinter diesem Sterben?

Der Sinn liegt wahrscheinlich darin, zu erkennen, dass Gott nicht einfach ein «Schönwettergott» ist. Er geht auch durch die tiefsten Tiefen mit uns. Gott griff ganz konkret immer wieder ein, wenn wir nahe an der Verzweiflung waren. Ich spürte es immer wieder: Gott ist da, ich kann ihm vertrauen! Manche Frage bleibt bis heute unbeantwortet. Aber ich darf einfach dankbar sagen: Gott hat uns durchgetragen, seine Nähe zu uns wurde zur realen Erfahrung.

Ich darf heute wieder verheiratet sein. Wir haben es gut in der Ehe und in der Familie. Wir wurden eine Patchworkfamilie mit allen Freuden, doch ich will nicht verschweigen, dass auch Leiden und Schwierigkeiten dazu gehören. Meine jetzige Frau, die ihren Mann durch einen Unfall auf dem benachbarten Hof verloren hatte, brachte vier Kinder mit. Wir durften zusammen noch ein gemeinsames Kind haben, so dass es jetzt zehn Kinder sind. Gott hat uns im Glauben gestärkt und reifer gemacht. Ein grosser Trost war für mich auch, dass sich vier Söhne kurz nach dem Tod von Ruth taufen liessen.

Sie hatten sich zuletzt für eine weitere Bestrahlung entschieden. Was haben Sie gewonnen durch diese verlängerte Leidenszeit?
Diese zusätzliche Zeit war ganz wichtig, damit wir uns miteinander vorbereiten konnten auf das, was kommt und ganz bewusst Abschied nehmen konnten. Wir hatten natürlich auch gehofft und geglaubt, dass Gott noch ein Wunder tut. Doch wir wollten parat werden für das, was Gottes Wille ist. Nach dieser Zeit waren wir vielleicht reifer, um anzunehmen, was auf uns zukam.

Warum wollte Ihre Frau die Leidenszeit nicht abkürzen?

Sie wollte bei uns und für uns da sein, so lange es ging. Sie sagte: «Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Das Schwerste ist für mich, euch zurückzulassen.» Sie versuchte noch in der Küche zu stehen, als sie fast keine Kraft mehr hatte. Sie hat ihre Schmerzen still ertragen und kaum geklagt.

Wie konnten Sie Ihrer Frau die letzten Tage erleichtern?
Die Spitex war miteinbezogen und hat das Bestmögliche gemacht und wir hatten die beste medizinische Betreuung durch den Hausarzt. Dazu kam die Schmerzlinderung durch Morphium.

Wofür sind Sie Ihrem Schöpfer im Rückblick besonders dankbar?

Das Grösste ist für mich, dass alle fünf Söhne bewusst auf dem Weg mit Jesus sind und ihm dienen wollen. Sie haben auch in den schlimmsten Momenten nicht gegen Gott rebelliert und sich nie von ihm abgewendet. Das ist ein Riesengeschenk für mich! Dankbar bin ich Gott auch, dass er mir wieder eine so glückliche Beziehung geschenkt hat.

Macht Ihnen diese Leidensgeschichte nicht Angst vor möglichen mühsamen Jahren im Alter?
(denkt länger nach) Das könnte ich nicht sagen. Ich habe es erlebt, dass die Gnade und Kraft Gottes immer wieder da sind. Er trägt uns wirklich durch! Das erlebte ich auch mit meinen Eltern, die unterdessen auch gestorben sind. Nein, ich habe keine grössere Angst deswegen, aber ich habe natürlich Fragen, wie es einmal gehen wird mit mir im Alter. Ich merke, dass ich der Typ bin, der stark mit den Kindern mitleidet und sie auch bewahren möchte.

Was heisst für Sie in Würde sterben?
Das heisst, ich habe jemanden, der mich auf dem Weg des Leidens begleitet und mich auch in der Stunde des Sterbens nicht allein lässt. Dafür sind wir auf der Welt, dass wir die Schwachen und Leidenden nicht allein lassen. Keine Krankheit und kein Siechtum mindert die Würde eines Menschen. Kranke Menschen strahlen manchmal mehr Würde aus als gesunde.

Welches ist Ihre grosse Perspektive als Christ?
Meine Perspektive für dieses Leben ist, dass wir einen lebendigen Gott haben, der uns durch alle Zeiten hindurchträgt. Und dann habe ich die ewige Perspektive: Ich bin auf dem Weg zum Tod, aber ich weiss, dass dann das Leben erst richtig beginnt. Mit dieser Hoffnung und dieser Gewissheit lebe ich jeden Tag.


Zum Interviewpartner: Gerhard Fischer
Jahrgang 1951, seit Geburt wohnhaft in Bäretswil ZH, nach Verwitwung das zweite Mal verheiratet mit Lina. Aus erster Ehe fünf Söhne, aus zweiter Ehe ein Sohn. Zusammen mit den Kindern von Lina zehn Kinder. Elf Enkelkinder. Ausbildung als Landwirt, Übergabe des Hofes auf den 1. Januar 2012 an einen Sohn. Seit 1997 Kantonsrat der EVP, 2010/11 Kantonsratspräsident. Hob­bys: Wandern, Fotografieren.

Zum Buch:
Gerhard Fischer ist Mitautor eines «Debattenbuchs», das Ende März mit dem Titel «Der organisierte Tod - Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende» erscheint. Das Buch erscheint zum besonderen Jahr für die Sterbehilfe, ist es doch 30 Jahre her, seit die Begleitung beim Freitod eingeführt wurde.


Buch bestellen:
Der organisierte Tod: Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende - Pro und Contra

Datum: 10.03.2012
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: idea Schweiz

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