Apokryphen

Alttestamentliche Apokryphen

Wir kommen jetzt zu den »apokryphen« Büchern, von denen manche Leute glaubten, dass sie kanonisch seien. Das ist ein wichtiges Thema, weil u.a. die römisch-katholische Kirche eine Reihe alttestamentlicher Apokryphen als kanonisch betrachtet, so dass man diese Bücher wohl in den römisch-katholischen, nicht aber in den meisten evangelischen Bibelausgaben findet. Die Septuaginta enthält ebenfalls alle diese Apokryphen (ausser 2. Esdras) und auch einige Pseudepigraphen. Die römisch-katholische Kirche erklärte während des Konzils von Trient (1546) die Apokryphen (bis auf 1. und 2. Esdras und das Gebet des Manasse) für kanonisch. Wir können die vollständige Liste der alttestamentlichen Apokryphen jetzt wie folgt einteilen:

1. Historisch
1. Esdras (Vulgata: 3. Esdras = 3. Esra): hauptsächlich eine Bearbeitung von 2. Chronik 35 und 36, Esra, Nehemia 8 und Legenden.
1. Makkabäer: die Geschichte des Judentums unter Antiochus Epiphanes und den Hasmonäern bis ca. 100 v. Chr. Ein wichtiges historisches Werk!
2. Makkabäer: ein paralleler, mehr legendärer Bericht, nur über Judas, den Makkabäer.

2. Religiöse Fiktion (»haggadah«)
Tobias: eine kurze, sehr pharisäische Novelle (ca. 200 v. Chr.), gesetzlich.
Judith: dasselbe (ca. 150 v. Chr.), heldisch, voller historischer Fehler.

Anhänge zu Esther: spätere, populäre Nachträge, die dazu dienen sollten, das Fehlen des Namens Gottes im Buch Esther wieder wettzumachen.
Anhänge zu Daniel: später aufgenommene Legenden: Die Geschichte der Susanna, die Geschichte von Bei und dem Drachen und der Gesang der drei Männer im Feuerofen (siehe Daniel 3).

3. Lehrhaft (»Weisheit«-Literatur)
Die Weisheit Salomos (zwischen 140 v. und 40 n. Chr.?): Attacke auf Skeptizismus, Materialismus und Götzendienst.
Jesus Sirach oder EkkIesiasticus (ca. 180 v. Chr.), ein moralisch hochstehendes Werk, ähnlich wie die Sprüche.
Baruch (zwischen 150 v. und 100 n. Chr.?): dieses Buch behauptet von sich, das Werk von Jeremias Freund Baruch zu sein - es enthält ein nationales Sündenbekenntnis, »Weisheit« und ein Erlösungsversprechen. Man fügte dem Buch Baruch oft den unabhängigen Brief des Jeremia bei.

4. Apokalyptische (= prophetische Visionen)
2. Esdras (Vulgata: 4. Esdras): Prophetie, Visionen und Ermahnungen. (Man sagt, dass dieses Buch Luther so verwirrte, dass er es in die Elbe warf.)
Im Lichte dessen, was wir oben geschrieben haben, wird es nicht schwer sein einzusehen, weshalb die ostorthodoxen, anglikanischen und protestantischen Kirchen diese Bücher niemals als völlig kanonisch angesehen haben. Wir wollen uns an die fünf genannten Kriterien erinnern und sehen, dass die Apokryphen (1) nicht den Anspruch erheben, prophetisch zu sein, (2) nicht mit der wirklichen Autorität Gottes reden, (3) wenig originelles, aufbauendes Material, keine Zukunftsprophetie und keine neue Wahrheit über den Messias (Gottes gesalbten Erlöser) weitergeben, (4) manchmal voller historischer Fehlangaben und dogmatischer Ketzereien sind, wie z.B. die Totenanbetung und (5) von Gottes Volk, an das sie zunächst gerichtet waren, abgewiesen wurden. Die jüdische Gemeinde hat sie niemals als kanonisch angenommen. Christus und die neutestamentlichen Verfasser taten das genausowenig; auch die christliche Kirche an sich hat sie zu keiner Zeit akzeptiert. Die meisten grossen Kirchenväter der Frühkirche haben sie als nicht-kanonisch verworfen. Kein grosses Kirchenkonzil hat diese apokryphen Bücher als kanonisch angesehen, bis die kleinen, örtlichen Konzilien von Hippo und Karthago (siehe oben) es dann, vor allem unter dem Einfluss von Augustinus und der Septuaginta, doch taten; aber sogar Augustinus betrachtete sie nur als begrenzt kanonisch und wurde ausserdem in diesem Punkt schwer von Hieronymus, dem grössten hebräischen Gelehrten jener Zeit, angegriffen. Er weigerte sich sogar, die Apokryphen ins Lateinische zu übersetzen. Erst nach seinem Tod wurden sie der Vulgata hinzugefügt. Selbst noch in der Zeit der Reformation wurden diese Bücher von vielen römischen Gelehrten als nicht-kanonisch verworfen.

Wir haben schon gesehen, wie die Apokryphen in die Septuaginta hineingelangten. Die alexandrinischen Juden, die diese griechische Übersetzung machten, hatten keine einzige Richtlinie, um einen Kanon festzulegen. Ihre Übersetzung beruft sich darum auch keineswegs darauf, einen Kanon darzustellen (siehe oben Philo). Genauso wie bei den ersten christlichen Bibeln (Sinaiticus, Vaticanus, etc.), nahm man in alten Manuskripten oft die Apokryphen auf, um sie für das Studium und Vorlesen zur Verfügung zu haben, ohne sie damit aber gleich als kanonisch anzuerkennen. Dies zeigt sich in den Schriften der antiken Verfasser und Kirchenväter. Als schliesslich das Konzil von Trient im Jahre 1546 die Apokryphen für kanonisch erklärte, war das eine polemische und mit Vorurteilen belastete Massnahme. In Diskussionen mit Luther beriefen sich die päpstlichen Katholiken auf Makkabäer, um die Totenanbetung zu verteidigen. Nachdem Luther dieses Buch als apokryph verwarf, antwortete Rom damit, dass man es in Trient einfach für kanonisch erklären liess. Dass dies nicht nur eine polemische, sondern auch eine mit Vorurteilen belastete Massnahme war, zeigt sich darin, dass nicht alle apokryphen Bücher für kanonisch erklärt wurden; so wurde u.a. 2. Esdras deshalb verworfen, weil es eine ausdrückliche Warnung gegen Totenanbetung enthält.

Neutestamentliche Apokryphen

Die Sache mit den apokryphen Büchern des Neuen Testaments ist deshalb einfacher, weil keines von ihnen auch nur von irgendeiner christlichen Gruppe als kanonisch angesehen wird, nicht einmal von Rom. Dadurch ist auch der Unterschied im Vergleich zu den Pseudepigraphen sehr vage; jede der Apokryphen-Schriften wurde von mindestens einem Kirchenvater als mehr oder weniger kanonisch betrachtet, was bei den Pseudepigraphen niemals der Fall war. Wenn wir die gerade genannte Definition der Apokryphen beibehalten, können wir sie wie folgt einteilen:

1. Werke der »apostolischen Väter«:
Die 7 Briefe von Ignatius (um 110 n. Chr.), insbesondere an die Epheser, Magnesier, die Trallier, die Römer, die Philadelphier, die Smyrnaer und an Polykarp.
Der Brief von Polykarp an die Philipper (um 115).
Der Brief von Klemens an die Korinther (um 96).
Der sogenannte zweite Brief von Klemens (aber nicht von ihm) (120-140?).

Die »Didache« (= Lehre) der zwölf Apostel (aber nicht von ihnen) (100-120?).
Der Hirte des Herzaas (Allegorie) (115-145?).
Der Brief von Barnabas (aber nicht von ihm; auch Pseudo-Barnabas genannt) (zwischen 70 und 135?).

2. Andere Apokryphen, die manchmal als kanonisch betrachtet wurden:
Die Offenbarung des Petrus (aber nicht von ihm) (um 150) Die Apostelgeschichte des Paulus (um 170)
Der Brief an die Laodizäer (4. Jhdt.?)
Das Evangelium der Hebräer (um 75).

Schlussfolgerung

Der Kanon der Bibel ist ein faszinierendes Thema und zeigt uns, wie deutlich und auffällig sich die Bücher der Bibel von den edel­sten, nicht-inspirierten religiösen Schriften unterscheiden - so auffällig, dass nur sehr wenige Bücher der Bibel umstritten sind, und das auch nur von einigen wenigen Kritikern.

Dieser einzigartige Charakter der kanonischen Bücher kann nur durch das Wunder göttlicher Inspiration erklärt werden (siehe Kapitel 6).

Datum: 11.07.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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