1. Ganz oben auf der Liste stehen die Papyri, namentlich der älteste (P52), die Chester-Beatty-Papyri (P4547) und die Bodmer-Papyri (P66, 72 und 75) (2. und 3. Jahrhundert). 2. Dann folgen die wichtigsten Handschriften: die grossen Unzialen auf Vellum und Pergament, von denen es ca. 300 gibt, die aus dem 4. bis 9. Jahrhundert stammen; den Codex Sinaiticus (L) K [Hebräisch]), Alexandrinus (A), Vaticanus (B), Ephraemi (C), Bezae oder Cantabrigiensis (= von Cambridge) (D), Washingtonianus oder Freerianus (W) und Koridethianus (H) nannten wir schon. Wir könnten hier noch aus dem 6. Jahrhundert den Codex CIaramontanus (= von Clermont) (D2) hinzufügen, der an (D) anschliesst und genau wie dieser sowohl einen griechischen als auch einen lateinischen Text hat und fast vollständig die Paulusbriefe (inkl. Hebräerbrief) enthält. 3. Die Minuskeln datieren aus dem 9. bis 15. Jahrhundert und sind demnach für die Textkritik von geringerer Bedeutung. Sie bestehen aus ca. 2650 Manuskripten und über 2000 Lektionarien (siehe unten). Einige der wichtigeren sind Nr. 33 ("die Königin der Minuskeln") aus dem 9. (oder 10.) Jahrhundert, die ausser der Offenbarung das ganze Neue Testament enthält und zu der "alexandrinischen" Gruppe gehört; weiter Nr. 81 (11. Jhdt.), die u.a. einen sehr guten Text der Apostelgeschichte bietet. Wir berichteten schon, dass die "cäsareanische" Gruppe u.a. von Familie 1 (d.h. der Familie, die mit Minuskel 1 anfängt und noch einige aus dem 12.-14. Jhdt. enthält) und Familie 13 (zwölf Minuskeln, angefangen mit Nr. 13, aus dem 11.-15. Jhdt.) vertreten ist. Wie gesagt, gehören die weitaus meisten Minuskeln zu der "byzantinischen" Struktur. 4. Von grosser Wichtigkeit sind die antiken Übersetzungen des Neuen Testaments, auch Versionen (= direkte übersetzungen aus dem Grundtext) genannt. Von den syrischen Versionen (Abkürzung Syr.) sind hauptsächlich die Altsyrische zu nennen (erhalten im Codex Syro-Sinaiticus und dem Codex Syro-Curetonianus, ca. 200), das Diatessaron von Tatianus (ca. 170), die Peschitta (ca. 411) (siehe Kapitel 2), und spätere, wie die des Bischofs Philoxenus (508), die des Bischofs Thomas von Harket (= Heracla) (616) und die palästinensisch-syrische Version (1. Hälfte 5. Jhdt.). Bei den lateinischen Versionen unterscheiden wir zwischen der Alt-Lateinischen (It) und der Vulgata (siehe Kapitel 2). Die altlateinischen Versionen sind in einer afrikanischen Fassung (vor allem im Codex Bobiensis [K] aus dem Jahre 400 - offensichtlich von einem Papyrus aus dem zweiten Jahrhundert kopiert - und in e und m erhalten), sowie in einer europäischen Fassung erhalten: Codex Vercellensis (Kode a aus dem Jahre 360) und Codex Veronensis (b). Dieser letztgenannte bildete die Grundlage für die Vulgata des Hieronymus, die u.a. in den prächtigen Codices Palatinus (5. Jahrhundert), Amiatinus und Cavensis erhalten wurde. Ferner sind diese Versionen in ca. 8000(!) anderen Texten vertreten. Die koptischen Versionen werden nach den gebräuchlichen Dialekten unterschieden in sahidische (Sah) und spätere bohairische (Boh) Versionen (die letzte ist hauptsächlich in einem Bodmer-Papyrus [III] des Johannesevangeliums enthalten) sowie nach einigen mittelägyptischen Dialekten. Daneben müssen u.a. die äthiopischen (Eth), armenischen (Arm), georgischen (Geo) und gothischen (Goth) Versionen genannt werden (siehe Kapitel 2). 5. Wir wiesen schon mehrere Male auf die Bedeutung der Zitate früherer Kirchenväter hin. Sie sind deshalb wichtig, weil sie älter sind als die ältesten Codices; sie sind aber nicht immer glaubwürdig; erstens, weil die Kirchenväter manchmal frei (auswendig) zitierten oder den Text paraphrasierten (umschrieben), und zweitens, weil ihre Schriften, wie auch der Bibeltext selber, den Einflüssen der Überlieferung ausgesetzt waren. Dass ihre Schriften trotzdem wichtig sind, wird an der Tatsache deutlich, dass darin vor Ende des 1. Jahrhunderts bereits aus 14 von 27 neutestamentlichen Büchern zitiert wurde (von Pseudo-Barnabas und Klemens von Rom), und dass ca. 150 n. Chr. sogar schon Verse aus 24 Büchern Anwendung fanden (u.a. von Ignatius, Polykarp und Her nas). Ferner zitierten die Kirchenväter nicht nur aus allen Büchern, sondern auch praktisch alle Verse des Neuen Testaments! Allein bei Irenäus (Ir), Justinus Martyrus, Klemens von Alexandrien (Clem-Alex), Cyprian (Cyp), Tertullian (Tert), Hippolyt und Origenes (Or) (alle vor dem 4. Jhdt.) finden wir zwischen 30000 und 40000 solcher Zitate. Aus späteren Jahrhunderten können wir u.a. noch Athanasius (Ath), Cyrill von Jerusalem (CyrJer), Eusebius (Eus), Hieronymus und Augustinus hinzufügen, von denen jeder fast alle neutestamentlichen Bücher zitiert. 6. Andere Textzeugen, die lange Zeit viel zu wenig beachtet wurden, sind die zahllosen Lektionarien; das sind Lesebücher, die besonders ausgewählte Bibelteile enthielten und für Gottesdienste gebraucht wurden. Die meisten dieser Lektionarien entstanden zwischen dem 7. und 12. Jahrhundert, während einzelne Fragmente aus dem 4. bis 6. Jahrhundert erhalten sind. Sie haben sich vor allem zur Klärung einiger besonders umstrittener Stellen des Neuen Testaments (Markus 16,9-20 und Johannes 7,53-8,11) als bedeutungsvoll erwiesen. 7. Schliesslich nennen wir noch die Ostraka (Tonscherben). Sie waren das Schreibmaterial der Armen (z.B. fand man eine Kopie der vier Evangelien auf zwanzig Ostraka aus dem 7. Jahrhundert - im ganzen sind etwa 1700 bekannt), und zuletzt die zahllosen alten Inschriften auf Wänden, Pfeilern, Münzen und Denkmälern. Wenn wir jetzt die wichtigsten Handschriften (Textzeugen) in die vier Gruppen, die wir nannten, einteilen (wobei man den mit Vorurteilen beladenen Ausdruck "neutral" schon längst durch "alexandrinisch" ersetzt hat), können wir sie zu einem Diagramm zusammenfassen (siehe Anhang). Dabei zählen wir die Textstrukturen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung auf und nennen immer zuerst die Papyri, dann die Unzialen, dann die Minuskeln, danach die Versionen und zum Schluss die Kirchenväter.
Datum: 02.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel