Er war aber mit diesem Erfolg noch lange nicht zufrieden. Er erwog, dass es in den heissen, trockenen Gebieten des Nahen Ostens womöglich noch uralte Klöster geben könnte, die nie von Mohammedanern geplündert worden waren. Hier könnten Christen in früheren Zeiten eine sichere Zuflucht gefunden und deshalb möglicherweise auch uralte Bibelhandschriften verborgen haben. So machte sich der 29jährige Tischendorf 1844 mit vier Beduinen per Kamel auf den Weg zum Kloster St. Katharina auf dem Berge Sinai. Dieses Kloster war um 530 von Kaiser Justinianus erbaut worden an einem Ort, an dem schon seit dem vierten Jahrhundert Mönche wohnten. In einem verwahrlosten Gebäude, in dem sich die Bibliothek des Klosters befand, begann Tischendorf, nachdem er das Vertrauen der Mönche gewonnen hatte, seine Suchaktion. Eines Tages fand er einen grossen Korb, voll mit alten Pergamenten: Der Bibliothekar erzählte ihm, dass man schon zwei Haufen solch alten "Plunders" verbrannt hätte. Der junge Tischendorf fand in dem Korb 129 Seiten eines griechischen Alten Testaments, die älter waren als jedes andere Manuskript, das er je gesehen hatte! Mit Mühe gelang es ihm, 43 der Seiten zu bekommen, und das auch nur, weil sie sonst ja sowieso verbrannt worden wären... Durch diesen Fund bekam Tischendorf Auftrieb; aber wie er auch suchte, den Codex, zu dem die Blätter gehörten (und der vielleicht auch ein Neues Testament enthielt), konnte er nicht finden. Im Jahre 1853 durchforschte er das Kloster noch einmal, aber wieder ohne Erfolg. Der unauffindbare Codex liess ihn aber nicht mehr zur Ruhe kommen, und so besuchte er 1859 das Kloster von neuem, jetzt aber mit einem Empfehlungsschreiben des russischen Zaren, in dem dieser einen Appell an seine griechisch-katholischen Glaubensgenossen im Kloster richtete. Aber auch dieses Mal blieb der Codex unauffindbar, bis er am Vorabend seiner Abreise von dem Klostervorsteher zu einem Abschiedstrunk eingeladen wurde. Während des Gesprächs zeigte er diesem ein Exemplar seiner Ausgabe der Septuaginta, worauf der Klostervorsteher meinte, Tischendorf müsse dann auch seine alte Kopie der Septuaginta sehen, aus der er jeden Tag lesen würde... Er holte ein in rotes Tuch gewickeltes Pergament von einem Brett herunter - und mit einem Blick sah Tischendorf, dass diese Blätter zu dem von ihm sehnsüchtig gesuchten Codex Sinaiticus gehörten. Er enthielt nicht allein 199 weitere Seiten des griechischen Alten Testaments, sondern auch ein komplettes Neues Testament! Was empfindet wohl in solch einem Augenblick ein Gelehrter, der ein Manuskript in Händen hält, das sowohl im Alter als auch in seiner Bedeutung alles übertrifft, was er in zwanzig Jahren studiert hat? Ausser sich vor Freude blieb Tischendorf die ganze Nacht auf, um Teile zu kopieren. Nach einigem Hin und Her wurde ihm das Manuskript nach Kairo nachgebracht und schliesslich dem Zaren geschenkt. Dieser gab dem Kloster dafür 9000 Rubel und verlieh eine Reihe hoher Auszeichnungen. Im Jahre 1933 kauften die Briten für 100 000 Pfund diesen kostbaren Codex von den Sowjets, und zu Weihnachten desselben Jahres schliesslich bekam er seinen endgültigen Platz im Britischen Museum - nach einer sehr bewegten Geschichte seit seiner Entstehung Mitte des vierten(!) Jahrhunderts. Danach beschäftigte sich Tischendorf mit einer dritten uralten Unziale: mit dem schon erwähnten Codex Vaticanus. Im Jahre 1866 bekam er nach einigem Hin und Her die Erlaubnis, diese Handschrift 14 Tage Iang, drei Stunden täglich, einzusehen, ohne dass er irgend etwas daraus kopieren oder publizieren durfte. Aber dennoch konnte Tischendorf wichtiges Material aus dem Codex Vaticanus in seiner neuen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments verarbeiten. Auch erschien 1868 eine Ausgabe des Codex Vaticanus (Neues Testament), von Gelehrten des Vatikans selber abgefasst. Auf diese Weise bekamen die Gelehrten in jenem Jahr zwei der wichtigsten Handschriften des Neuen Testaments in die Hand, die ein Jahrhundert älter waren als das älteste Material, das man bis dahin hatte benutzen können! Nun war eine gründliche Revision des allgemein akzeptierten Textes nicht mehr zu umgehen, weil die Codices Sinaiticus und Vaticanus in wichtigen Punkten abwichen - und nach Meinung fast aller Gelehrten besser waren als der Textus Receptus. Diese grosse Revision wurde in Deutschland von Tischendorf (1869-72) und in England von den zwei grossen Cambridge-Gelehrten B. F. Westcott und F. J. A. Hort (Ausgabe 1881) durchgeführt. Dieses letzte Werk war für die Textkritik des Neuen Testaments von ausserordentlicher Bedeutung. Die Gelehrten (Tischendorf, Westcott und Hort) teilten (nach den schon vorhandenen Richtlinien Griesbachs) die Handschriften in vier Gruppen ein: (a) die neutrale Gruppe (dazu gehörten vor allem der Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus, verschiedene Minuskeln, die Bohairische Übersetzung (siehe Kapitel 2 und unten) und die Zitate des Origenes), (b) eine ziemlich undeutliche alexandrinische Gruppe, die später Gruppe (a) zugefügt wurde, (c) die westliche Gruppe (dazu gehörten die Codex Bezae, die alt-lateinische und die damals bekannte alt-syrische Übersetzung und vor allem fast alle Zitate der frühesten christlichen Verfasser), (d) die syrische (oder byzantinische) Gruppe, die vom Textus Receptus vertreten wird. Gruppe (d) legten sie genau so schnell zur Seite wie Griesbach und Lachmann; (c) betrachteten sie als minderwertig; und zwischen Gruppe (a), die sie als die Gruppe der besten Texte ansahen, und Gruppe (b) gab es keine grossen Unterschiede. Westcott & Hort brachten endlich den lang ersehnten griechischen Text heraus, Dieser Text basierte auf den ältesten und besten Handschriften und stützte sich auf eine gut umschriebene textkritische Auffassung. Ausserdem war die grösstenteils darauf basierende Revised Version (englische revidierte Übersetzung) des Neuen Testaments aus dem Jahre 1881 bis dahin die sensationellste Publikation aller Zeiten: Nur um eines der ersten Exemplare dieser Ausgabe zu bekommen, wurden bis zu 5000 Pfund geboten; allein schon die Oxford-Presse verkaufte am Tag der Herausgabe eine Million Exemplare; den ganzen Tag über waren die Strassen um den Verlag herum durch einen Strom von Wagen blockiert, die die Bücher zu den verschiedenen Stationen bringen sollten! Aber gleichzeitig rollte eine Welle der Kritik heran, die vor allem in der Unlust des Volkes begründet war, Änderungen im Wortlaut eines so bekannten und geliebten Buches, wie die Bibel es ist, zu akzeptieren. Teilweise war diese Kritik berechtigt, wie sich im Jahrhundert der grossen Entdeckungen, das nach 1881 folgte, zeigte. Das wollen wir uns nun anschauen.Die grosse Textrevision
Datum: 05.08.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel