Unter unseren Schuldigern meint das Vaterunser nicht bloss Menschen, die uns geradezu beleidigt oder uns absichtlich weh getan haben. Auch hier führt uns der einfache Wortsinn auf die Spur. Schuldiger sind Menschen, die uns etwas schuldig geblieben sind. Was denn? Das, was sie um Gottes willen uns hätten tun oder geben sollen.
Der Reiche, der den Armen darben lässt, wird zu seinem Schuldiger. Mein Schuldiger ist ein Mensch, der mir kein Verständnis entgegenbringt, der unaufmerksam zu mir ist, der mir im entscheidenden Augenblick eine Hilfe oder einen Dienst nicht erweist, der mich nicht besucht, mir nicht schreibt, mich nicht tröstet, wo er es könnte und sollte, also jeder, der mir eben so oder anders etwas schuldig geblieben ist. Unsere Schuldiger sind also nicht einige wenige Leute, sondern ihrer ist eine grosse Zahl.
Dem Schuldiger erlassen, heisst: zu ihm so sein, als hätte er gar keine Schuld
Um so wichtiger für uns zu wissen, wie wir uns zu ihnen verhalten sollen. Da steht im Urtext: »wie wir erlassen haben unseren Schuldigern«. Ist eine Schuld erlassen, so existiert sie nicht mehr.Dass wir unseren Schuldigern vergeben, bedeutet also, dass ihre Schuld in unseren Augen nicht mehr vorhanden ist. Wir sind dann zu ihnen ebenso gut, ebenso warm, ebenso offen, ebenso treu, ebenso dienstbereit wie zu jedem Menschen, den wir um Gottes willen liebhaben.
Zu diesem offenen und guten Verhalten kann es gewiss auch gehören, dass wir dem Schuldiger ein Wort sagen über seine Schuld. Aber wir sagen es dann in keinem anderen Ton, in keiner anderen Weise, als wir sonst einen Bruder auf seine Splitter aufmerksam machen. Wir sprechen davon, weil es überhaupt eine Schuld ist, und nicht, weil er uns etwas schuldig geblieben ist.
Kurz, einem Mitmenschen seine Schuld erlassen haben, heisst: ihn so ansehen, mit ihm so umgehen, sich so zu ihm stellen wie zu jedem andern Menschen. Stellen wir uns so zu unseren Mitmenschen, dann erlässt der himmlische Vater uns unsere Schuld. Was im andern Fall des Menschen Schicksal ist, sagt uns das Gleichnis vom Schalksknecht: er kommt ins Schuldgefängnis. Er gerät selbst immer tiefer unter die Macht des Bösen.
Durch nichts begründet ist die Annahme, es wäre dem Schuldiger nur dann zu vergeben, wenn er ausdrücklich um Vergebung bittet. Hätte Jesus das so gemeint, so hätte er gewiss nicht gesagt: »Liebet eure Feinde, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.« Oder kann man einen Menschen lieben, segnen, für ihn bitten, dem man nicht vergeben hat?
Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch