Den eigenen Zeitgeist erkennen

Dazu ein Bild: "Über der Welt hängt ein wunderschönes Netz. Jemand ist daran, einzelne Seile, an denen das Netz aufgehängt ist, zu kappen. Jedes dieser Seile sieht wichtig aus. Es scheint, das Netz müsste in jedem Moment in sich zusammenfallen. Jedes Mal gibt es zwar eine kleine Veränderung. Die Konstruktion jedoch bleibt intakt. Irgendwann wird ein weiteres Seil durchtrennt. Es ist klein, eher unscheinbar und mitten unter grösseren, starken Seilen. Da fällt plötzlich alles in sich zusammen."

Das Bild macht auf folgendes aufmerksam: Es gibt keine Zeit ohne "Zeitgeist", der uns alle erfasst und in gleicher Weise überspannt. Tatsächlich geschehen Veränderungen. Lange feststehende Überzeugungen fallen. Worauf man sich bisher berufen konnte, das verliert nun seine Kraft. Dafür entstehen neue Überzeugungen, die scheinbar fraglos gelten. Welche Wichtigkeit aber die einzelnen "Halteseile" haben, das ist schwer vorhersehbar. Manche wichtig scheinende Haltepunkte gehen verloren, ohne dass allzu viel geschieht.

War früher alles besser?

Spricht man vom Zeitgeist, klingt das negativ, abwertend. Man erwartet ein Klagelied, dessen Inhalt man zu kennen meint: zerfallende Werte, Egoismus, Kurzfristigkeit, Erlebnisorientiertheit usw. Und das alles nach der Melodie: Wie war es früher doch viel besser.

Stimmt das? Nein. Es war früher nicht alles besser. Was heute im Zug des "Zeitgeistes" möglich geworden ist, hat viel mit dem Ablegen von alten Zwängen zu tun. Ich denke in diesem Zusammenhang an das Wort Jesu, dass die Kinder dieser Welt ihrem Geschlecht gegenüber klüger seien als die Kinder des Lichtes. Jesus hat diese Aussage positiv gemeint.

Der Blick in die Vergangenheit ernüchtert: Welcher "Geist" herrschte früher unter den Christen, in den Kirchen? Das Erschrecken muss einen packen, wenn man auf die unglückselige Verquickung von "christlichem" und sehr handfest weltlichem Geist trifft. Geschäftstüchtigkeit und Beharrungsvermögen werden dort gefährlich, wo sie sich mit Ungerechtigkeit und der Blindheit für menschliches Elend verbinden und gleichzeitig das Gewand der Christlichkeit überziehen. Zwei Beispiele dafür:

Die Landeskirche des Pfarrers Christoph Blumhardt (gestorben 1919) stand auf der Seite des wohlhabenden Bürgertums, das an den bestehenden sozialen Verhältnissen nicht rütteln wollte und die Verelendung der Arbeiterschaft als unabänderlich hinnahm. So wurde die Kirche für das Bürgertum zum Ruhekissen - und damit faktisch zum Garanten der bestehenden Verhältnisse. Offen gestanden: Ist das heute in unseren Landes- und Freikirchen so viel anders? Christoph Blumhardt stellte sich dem entgegen und sagte: "Gottes Geist ist am Werk, wo etwas zugunsten der Gerechtigkeit für die Menschen geschieht, wo Hoffnung aufbricht, wo Menschen ihr Leben für andere einsetzen."

Wo geschieht das? Seine damalige Antwort: "In der Sozialdemokratie, wo man sich gegen das Elend der Arbeiterschaft einsetzt." So wurde Blumhardt als württembergischer Pfarrer Landtagsabgeordneter für die Sozialdemokraten. Das hat ihn, obwohl das durchaus sein bürgerliches Recht war, den Pfarrertitel seiner Landeskirche gekostet. Landtag, Sozialdemokratie, Gewerkschaften - das mag vorbei sein (und war es für Blumhardt später auch, weil er die Grenzen der damaligen Sozialdemokratie zu sehen lernte). Aber die Grundfrage bleibt aktuell: Wo sind Menschen, die offene Augen für die Not der Menschen haben, gerade der Schwachen, der Entrechteten?

Parallel dazu das Beispiel von Madeleine Delbrêl: Als Katholikin lebte sie in einem der verelendeten Arbeitervororte von Paris, um dort - in den schwierigen Fünfzigerjahren - als Sozialarbeiterin christliche Botschaft zu leben: das Elend zu lindern, indem sie es teilte, es aber auch aufdeckte und brandmarkte. Was fand sie vor? Ihre offizielle Kirche stand auf der Seite der Machthaber zur Bewahrung des Bestehenden. Daneben waren die Kommunisten auf der Suche nach dem entrechteten Menschen.

Weil Delbrêl zur Kirche in ihrem wesentlichen Sinn gehörte, wandte sie sich den entrechteten Menschen zu - und arbeitete mit den Kommunisten zusammen. Nicht zuletzt führte das zum Widerstand gegen die offizielle Kirche, die sich mit den bestehenden Verhältnissen eingelassen hatte und sie nun auch noch legitimierte. Stellvertretend für ihre Kirche musste sich Delbrêl gerade in der Nähe zu den damaligen Kommunisten auch die Frage nach den Grenzen der Zusammenarbeit stellen. "Wir Nachbarn der Kommunisten" lautet der Titel eines ihrer Bücher.

Ist unser christlicher Geist mehr als der Zeitgeist mit fünf Jahren Verspätung? Damals wie heute ist folgendes zu beobachten: Wer aus dieser Form von Zeitgeist ausbricht, der trifft auf tiefgründigen Widerstand gerade da, wo sich der Zeitgeist mit dem christlichen Geist verbunden hat. Anders ausgedrückt: Dort, wo der "Geist", der die Zeit beherrscht und prägt, zum guten Kirchgänger geworden ist, wird er sich vehement gegen jeden Versuch wehren, ihn von der Kirchenbank zu jagen.

Offene und verborgene Ziele

Bei der kritischen Überprüfung des (christlichen) Zeitgeistes hilft uns nur, wenn wir verstehen lernen, was uns selbst bewegt. Wer dem nicht ausweichen will, der kann Fragen stellen - sich selbst, anderen, Institutionen, der eigenen Gruppe: Welche Ziele werden hier eigentlich verfolgt? Wofür wird hier gelebt, gearbeitet, Zeit und Geld investiert? Ist Gott mehr als ein Alibi für das eigene Wohlbefinden? Dient der Gottesdienst der eigenen Ruhe oder öffnet er die Augen für die Not der Welt? Ist Glaube mehr als eine intensive Freizeitbeschäftigung? Ist die Gruppenzugehörigkeit mehr als Nostalgie? Sind Tagungen, Kurse, Kongresse mehr als Unterhaltung?

Fragen zu den drei Einsatzfeldern Mensch, Schöpfung, Zukunft: Was bedeutet mein alltägliches Verhalten für die Menschen, gerade für die Schwachen, die Entrechteten? Dient es ihnen oder schade ich ihnen? Was bedeutet mein alltägliches Verhalten für die Umwelt, für die Schöpfung? Dient es? Schadet es? Welche Auswirkungen hat mein alltägliches Verhalten für die Zukunft? Diese Fragen müssen konkreter ausformuliert werden: Wer bezahlt meinen günstigen Kaffee, den ich trinke, mein billiges T-Shirt, das ich soeben erstanden habe? Schade ich den Menschen, die in der nächsten Generation leben werden? Unterstütze ich sie?

Welche verborgenen und offenbaren Kräfte sind bestimmend, die Bewegung zu fördern bzw. zu verhindern? Möchten wir in Gottes Liebe "ruhig(gestellt)" werden, oder nimmt Gottes erfahrene Liebe uns in die Bewegung für seine geliebte Welt hinein?

Kampf gegen den eigenen Zeitgeist

Ohne Fragen an das eigene Leben geht es nicht. Wenn wir die Fragen nach unseren Zielen, nach den Einsatzfeldern und nach der Dynamik unseres Lebens nicht an uns selbst stellen und dann die Antworten auch aushalten, dann nützt uns die Frage nach dem Zeitgeist nichts. Wir vertreten ihn längst selbst, wenn auch in seiner christlichen Variante.

Was jedoch liegt vor uns, wenn wir uns diesen Fragen stellen? Keine vollständige Antwort, jedoch einige Hinweise:

· Liebe erfahren und schenken

Echte Lebensbewegung, die auch Kraft zum Widerstand gegen Unrecht aufbringt, kann nur aus der Liebe kommen. Die Botschaft von der unbedingten Liebe Gottes ist Ausgangspunkt, wenn auch nicht Endpunkt. Ich muss und darf mich von daher selbst lieben lernen. Auch das ist Ausgangspunkt, nicht Endpunkt. Gottes Liebe nimmt mich schliesslich in seine Liebesbewegung in diese Welt hinein. Ich lerne damit, den nächsten Menschen mit den Augen von Gottes Liebe anzusehen. Einerseits werde ich geduldig, vergebend, segnend, andererseits werde ich aufdeckend, unduldsam, ja in letzter Schärfe vorgehen, weil Schweigen und Weitermachen zu Formen der Lüge werden.

· Bewusst Ziele setzen

Lebensziele müssen uns bewusst sein, notfalls revidiert werden. Was hält dieser Bewegung der Liebe Gottes noch stand, was nicht mehr? Mit welchen Zielen wird mein Leben zum Schaden für andere Menschen, für die Schöpfung, für die Zukunft? Praktisch sieht das so aus: Ziele müssen klar formulierbar sein, damit sie überprüfbar sind. Das gilt für den einzelnen Menschen wie für Gruppen, ja für uns als Kirche. "Ich will in meinem Leben ... erreichen." Ziele sind wertlos, wenn sie bloss Stimmung verbreiten, ohne weiteren Einfluss auf meine konkrete Lebensführung zu haben. Hilfreich ist deshalb die Formulierung von Teilzielen. "Um das grosse Ziel ... in meinem Leben zu erreichen, will ich bis ... das Teilziel ... anstreben und mein Leben darauf ausrichten."

Es gibt Ziele, die in der kleinen Dimension meines Lebens stecken bleiben. Als Christen muss uns deutlich werden, dass Gott ebenso für sich Ziele, Teilziele und Strategien entwickelt und formuliert hat, die sein Handeln bestimmen und zielgerichtet sinnvoll machen: "So sehr hat Gott die Welt lieb, dass er seinen einzigen Sohn dahingab." In diese Bewegung gehören wir hinein. Wo wir uns an diesem Ort finden, stehen wir im Herzen der Kirche.

· Verzicht

Täusche ich mich, wenn ich sage, dass der entscheidende Unterschied echten Lebens gegen jede Form von Zeitgeist in der Fähigkeit liegt, Verzicht zu leisten? Dabei muss uns klar sein, dass Verzichte an sich sinnlos sind. Verzichte sind nur dann sinnvoll, wenn sie notwendig und hilfreich sind, ein grösseres Ziel zu erreichen.

· Verzichte, die nicht "zielgerichtet" sind, bleiben unsinnig. Mehr noch: Sie verkehren und verderben den tiefen Sinn des Verzichtes in sein Gegenteil, obwohl sie äusserlich den Anschein bewahren. Bescheidenheit ist keine christliche Tugend und oftmals nur der fade Ersatz echten Verzichtes. Wo in der Bibel wird Bescheidenheit an sich als Ideal angesehen? Wenn ich um mich sehe (und, ich gebe es zu, auch in mich hineinsehe), dann entdecke ich im Umfeld christlicher Bescheidenheit eine Unmenge verkümmerten Menschseins: Nur nicht zuviel, nur nicht zu laut, nur nicht zu modern, nur nicht zu leidenschaftlich, nur nicht zu ...!

Festlich leben

Ein Ziel haben und darauf hin ganz fröhlich und exzessiv sein Leben wagen: Wer sein Leben und darin sich selbst als Fest feiern kann, ist fähig zum Verzicht. Er gibt fröhlich Kostbarstes hin, um etwas zu erreichen, was noch kostbarer ist. "Der ist kein Tor, der hingibt, was er nicht behalten kann, um zu gewinnen, was er nicht verlieren kann" (Jim Elliott). Jesu Gleichnisse vom Schatz im Acker, von der Perle sind wegweisend. Da verzichtet man nicht, um zu finden - sondern genau umgekehrt: Wir finden, sind gefunden worden. Von daher kommt Verzicht, der diesen Namen verdient, der das strahlende Antlitz des Reichtums Gottes an sich trägt. Damit ist und wird Zeitgeist durchbrochen und Freiheit gewonnen.

Datum: 24.06.2010
Autor: Wolfgang Bittner

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