Liebe und Hass: West Side Story auf dem Thunersee

Über die Thunersee-Bühne fegen diesen Sommer zwei Strassengangs. Der Irrsinn ihres Innercity-Verdrängungskampfes kontrastiert schmerzhaft mit der ruhigen Kulisse.
Liebe ohne Zukunft: Maria und Tony. (Bilder: Thunerseespiele)
Im amerikanischen Traum angekommen: Die Ladies der Sharks mit ihrem Chef.
Träume im Nähatelier: Maria und Anita.
Die Jets mit Anhang.

Mit dem klassischen Musical aus den 1950er Jahren ist New York in Thun zu Gast. Die Charaktere kommen uns nahe: das arglos-erlebnishungrige Einwanderermädchen Maria, der nicht bloss latent fremdenfeindliche Polizeioffizier, der gewiefte, zu allem entschlossene Leader der Clique, seine rauflustigen und perspektivlosen Mitläufer, die ihre Eltern verwünschen, Girls, die mit Reizen nicht geizen, der solide Tony, welcher, der Teenie-Kraftmeierei überdrüssig, seinen Weg sucht - und vor allem Anita, die lebenslustige Frau von Puerto Rico, die im Dschungel der Grossstadt mit ebenso viel Herz wie Köpfchen agiert. Als Komödiantin ragt Sigrid Brandstetter aus dem Ensemble heraus, das die einheimischen Jets und die zugewanderten Sharks gibt.

Dort und hier

Das von ‚Romeo und Julia‘ inspirierte Drama zwischen den Gangs spitzt sich tragisch zu. Das Verlangen nach Harmonie oder Heroischem, das im Zuschauer angesichts der verdämmernden Thunersee-Naturkulisse aufkommt, wird nicht gestillt, im Gegenteil: West Side Story tut weh; die destruktive Unvernunft siegt. Das muss wohl so sein. Denn Jugendgewalt ist nicht bloss ein Problem von ‚Inner cities‘ jenseits des Atlantiks, sondern geschieht auch hier, in Kleinstädten, wo kein Verdrängungskampf um enge Strassenschluchten abgeht.

Kraftmeierei und Messer

Beinharte, unüberwindliche Vorurteile und rassistisch angefachter Hass halten die Gangs gefangen. Auf der weiten, nicht gegliederten Freilichtbühne - nebenan schwimmen Schwäne - kommt diese Enge der Herzen nicht zum Ausdruck. Wozu bekriegen sie sich, wozu wollen die einen „die anderen plattmachen", wenn beide so viel Platz haben? Für die Tanzszenen - im Meisterwerk aus New York explosiver Ausdruck der Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen - bietet die Bühne Raum, den die jungen Profidarsteller engagiert nutzen. Die beiden Liebenden wirken eher verloren; Intimität kann vor und am Stahlgerüst nicht aufkommen.

Feuer und Flamme

Gegen den Hass steht Versöhnungswillen: Tony, früher bei den Jets, und Maria, Schwester des Sharks-Leaders, haben auf einer Tanzveranstaltung der Gangs Feuer gefangen. Doch ihre Zuneigung darf nicht sein; so träumen die Liebenden ihre Hochzeit - eine der rührendsten Szenen der Musicalgeschichte - und Tony fantasiert ein neues Leben ausserhalb der Stadt. Die Realität holt sie ein; aus der Kriegsrhetorik wird Action; die Geschehnisse geraten ausser Kontrolle; von den fünf Hauptpersonen bleiben zwei am Leben.

Vergebung...

Gegen das Ende tanzt die West Side Story auf dem schmalen Grat emotionaler Extreme. Tony kommt zu seiner Geliebten mit der verzweifelten Bitte, ihm die Tötung ihres Bruders zu verzeihen. „Es kommt eine Zeit, in der niemand die Fäuste ballt": Die beiden singen von einem anderen Leben, einer von Vergebung geprägten Zeit - und können sie doch nicht herbeisingen. Zauberhafte Illusion - die Gewalt behält die Oberhand.

...aber wann?

Der Bandenkrieg erschüttert durch seine Unentrinnbarkeit. Es kommt so heraus, wenn verbitterte Menschen, in gehärteten Gruppenidentitäten gefangen, gegeneinander antreten. Was das Musical ersehnt, ohne dass es in Blick kommt, findet sich in der Person von Jesus von Nazareth, der Gewalt erduldete, sie absorbierte, ohne selbst dem Hass zu verfallen, und sie besiegte, indem Gott ihn aus dem Grab riss und ihm ein unangreifbares Leben gab. (2009 wird auf der Thunersee-Bühne Jesus Christ Superstar gespielt!)

Liebe mit langem Atem

Wer die Geschichte von Maria und Tony 50 Jahre nach der Entstehung des Musicals erlebt, fragt sich, ob ihm heute noch so viel Zuversicht eingeschrieben würde. Oder ist uns nichts Besseres gegeben, als immer neu zu glauben, was der Apostel Paulus für die von Gott geschenkte Liebe schrieb?: „Die Liebe hat den langen Atem, gütig ist die Liebe, sie eifert nicht. Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles."

So setzt das Musical einen deutlichen Hinweis auf die bessere Welt, für die wir geschaffen sind. Und jedenfalls macht die geniale, den Stilreichtum des 20. Jahrhunderts spiegelnde Musik aus der Feder von Leonard Bernstein die West Side Story an den Thunerseespielen 2008 zum Ereignis.

  

Vorstellungen bis 30.August auf der Seebühne Lachen in Thun.
Infos und Tickets

Datum: 23.07.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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