Religion in den Medien

«Gesellschaftlich relevante Geschichten erzählen»

Für die einen zu viel, für die anderen viel zu wenig: Über Glauben in der Öffentlichkeit gehen die Meinungen weit auseinander. Der Medienwissenschaftler Prof. Vinzenz Wyss stutzt im Gespräch mit Livenet Erwartungen und rückt Proportionen zurecht.
Medienwissenschaftler Vinzenz Wyss

Livenet: Gewisse Atheisten zielen darauf ab, Glaubensäusserungen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Es wird unterstellt, dass Gesellschaften mit mehr religiösen Äusserungen mehr Konflikte haben, dass unser Zusammenleben ohne religiös verursachten Ärger einfacher wäre.
Vinzenz Wyss:
Das ist sehr bedenklich. Ich nehme eine grosse Verwechslung wahr. Als Beispiel fällt mir ein Beitrag der SRF-Rundschau ein, in dem Hugo Stamm interviewt wurde. Der Sektenexperte will beobachtet haben, dass es, wo Religion ein Thema ist, oft zu Konflikten und Machtmissbrauch kommt. Wenn es um eine Machtgeschichte geht, trifft dies wohl zu; da laufen unschöne Dinge ab. Aber es ist unfair, aus aller religiösen Praxis und dem Zelebrieren religiöser Überzeugungen einen Machtanspruch abzuleiten. Das macht Stamm in dem – von der Ombudsstelle übrigens kritisierten – Beitrag. Und Journalisten fallen darauf herein und sehen Gläubige als Leute, die andere gegen ihren Willen überzeugen wollen.

Das Thema ist dann gar nicht Religion, sondern Macht. Hier brauchen wir eine Zäsur; wir müssen uns fragen: Wovon reden wir eigentlich? Im Gespräch verweisen Religionskritiker gern auf die Kreuzzüge. Ich halte ihnen entgegen, dass da Machtansprüche den Schaden angerichtet haben. Man kann die Gräuel nicht einfach der Religion anlasten. Es gilt zu unterscheiden und nicht alles in einen Topf zu werfen. Aber der Journalist geht gern darauf ein, weil er damit den Bösen und den Guten in der Geschichte hat.

Das Treiben von Islamisten trägt dazu bei, dass Religion generell als Ursache für Konflikte gesehen wird. Säkular gestimmte Zeitgenossen fragen sich: Wollen alle Religionen uns vereinnahmen?
Interessant ist, dass wir mit Politik anders umgehen. Wir brauchen sie, damit verbindliche Entscheidungen gefällt werden. Sie ermöglicht unser Zusammenleben. Wir sagen nicht, Politik sei an sich schlecht – obwohl sie oft zu Machtmissbrauch führt und von Lügen und falschen Versprechungen durchsetzt ist. Bei Religion hingegen neigen manche dazu, alles in einen Topf zu werfen: Der Missbrauch von Religion für Machtausübung wird mit Religion überhaupt gleichgesetzt. Das ist ein grosser Fehler. Es gilt zu differenzieren.

Und wenn Leute mit religiösem Anspruch nicht hinterfragbar sind?
Hugo Stamm sagte in dem Beitrag, dass es Leute gibt, die die Bibel über alles stellen – und dass das nicht in unsere Welt passe. Wie kann er eine solche Aussage machen? Wer ist legitimiert, eine solche Aussage zu machen? Warum sind denn jene mehr legitimiert, für die der freie Markt die alles bestimmende Logik vorgibt? Das ist ja genauso eine fundamentalistische Aussage.

Ich glaube, es muss für alles Platz haben. Ein wichtiger Teil der Gesellschaft hält an Glaubenssätzen fest und vertritt sie. Das muss legitim sein. Es kann nicht sein, dass einer den Aufklärer spielt und darüber urteilt, was in die Welt passt und was nicht.

Gewissen Christen wird eine missionarische Agenda vorgehalten. Doch auch Tamedia hat eine Agenda verfolgt, etwa in der Frage Schweiz-EU.
Wichtig ist, dass man Transparenz schafft. Die Weltwoche deklariert, dass sie mehr den Staat als die Wirtschaft unter die Lupe nimmt; das finde ich okay. Wir sind jedoch in der Gesellschaft auf Organisationen angewiesen, die das Menschenmögliche für unabhängigen Journalismus tun. Die journalistische Logik besteht darin, über das Erzählen von gesellschaftlich relevanten Geschichten Sinn und Orientierung zu stiften und dies in einer Vielfalt von Perspektiven zu tun. Früher garantierten mehrere Parteiblätter eine gewisse Meinungsvielfalt; heute sind wir auf Medien mit einer Binnenvielfalt angewiesen. Der öffentliche Rundfunk versucht dies organisational zu sichern.

Laut einer Nationalfondsstudie stellen Freikirchler 29 Prozent der Menschen in der Schweiz, die wöchentlich eine religiöse Veranstaltung besuchen. In der SRF-Berichterstattung kommen sie spärlich vor.
Sie gehen davon aus, dass Medien Realitäten abbilden. Dies halte ich für eine falsche Erwartung. Es gelingt ja nicht einmal der Wissenschaft, Realität abzubilden. Medien fokussieren auf Dinge, die irritieren, auf Probleme, die öffentlich zu verhandeln sind. Die Geschichten sind so zu erzählen, dass wir sie lebensnah einordnen können. Das bedingt eine Vereinfachung, eine Reduktion von Komplexität. Und so kann es sein, dass die 29 Prozent in den Geschichten zu wenig vorkommen, weil sie im Rahmen einer grossen Geschichte keine wichtige Stimme darstellen. Den Medien kann man nicht vorwerfen, dass sie die 29 Prozent ungenügend abdecken. Jene, die finden, sie würden zu wenig gehört, haben dafür zu sorgen, dass ihr origineller Beitrag, ihre Position, auch in eine solche grosse Erzählung hineinpasst.

Die Schweiz ist säkular gestimmt; grosse Medienorganisationen geben jenen Raum, die die Säkularisierung weiter treiben möchten. Wenn sich an einem heissen Sommertag mehrere tausend Menschen im Gebet auf Gott ausrichten, sind sie kein Thema. Beten scheint nicht interessant.
Es ist in einem gewissen Sinn erwartbar. Da motiviert eine Organisation Menschen, sich zu engagieren. Man kann erwarten, dass solche Leute das tun. In dem Sinn ist der Gebetstag kein grosses Ereignis…

…kein Ereignis wie der Rücktritt des Papstes.
Ja. Wann haben wir das zum letzten Mal gehabt? Das vom Normalen und Gewohnten Abweichende interessiert die Medien.

Aber in der säkularen Gesellschaft sind Menschen, die sich auf Gott, auf die Transzendenz ausrichten, gerade nicht mehr normal…
…insofern sie die Ausnahme sind, ja. In der säkularen Gesellschaft ist die Transzendenz-Diskussion von der Öffentlichkeit weggezogen worden. Sie findet zwar statt, da das Transzendente uns Menschen interessiert, aber vor allem im Privaten. Unter diesen Umständen sind jene, die ihren Glauben zeigen und zelebrieren, aufs Ganze gesehen zwar eine Ausnahme. Da wird ein Gottesdienst unheimlich intensiv zelebriert und Leute werfen gar ihre Krücken weg – früher habe ich als Radiojournalist auch derartige Veranstaltungen besucht und gedacht: interessant, eine eigene Welt. Dann kam ich in die Redaktion zurück und musste sagen: Das ist typisch, das läuft dort so.

Christen, die in der säkularen Gesellschaft etwas Anderes zelebrieren, sind gleichsam eine erwartbare Ausnahme. Viel eher gehört werden sie, wenn sie originell in säkulare Debatten eingreifen. Aktuell wird über Managerlöhne gestritten. Wenn nun eine Gruppierung kommt und sagt, dass wir mit Gier und Abzockerei unser Leben nach dem Tod aufs Spiel setzen, dann ist das eine unheimliche Aussage. Oder nehmen Sie den Streit um den Sonntagsverkauf: Wer die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten verlogen findet und fordert, dass wir wieder einen Tag ohne Einkaufen verbringen, ist von seinen religiösen Überzeugungen her konsequent und bringt etwas Irritierendes vor. Was er sagt, schliesst an eine bereits öffentlich verhandelte Geschichte an. 

Prof. Dr. Vinzenz Wyss lehrt Journalistik am Institut für angewandte Medienwissenschaft der ZHAW Winterthur. Er hat an der Nationalfondsstudie «Die Darstellung von Religionen in Schweizer Massenmedien» mitgewirkt. Die ZHAW bietet eine Medien-Weiterbildung für Religionsvertreter an.

Datum: 10.08.2014
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service