Abtreibungs-Regelung: Eine Beurteilung von Dr. Walter Gut, ehemaliger Regierungsrat

Dr. Walter Gut

Wie sieht die vom Parlament vorgesehene neue Abtreibungsregelung aus rechtlicher Sicht aus? Wir haben einen prominenten Staatsrechtler um eine Beurteilung gebeten. Dr. Walter Gut, ehemaliger Regierungsrat des Kantons Luzern, hat sich eingehend mit der Materie befasst.

Am 23. März 2001 hat die Mehrheit der Bundesversammlung eine bedeutende Änderung der Art. 118 - 120 des Strafgesetzbuches (Abtreibung) beschlossen. Kurz zusammengefasst: Der Gesetzgeber will mit dem neuen Art. 119 StGB erreichen, dass der Staat vom Schutz des Lebens des ungeborenen Kindes für eine gewisse Zeit entbunden wird und eine Frau generell nicht bestraft, die in den ersten zwölf Wochen (nach der letzten Periode) einer Schwangerschaft die Leibesfrucht abtreibt - sei es den Embryo, sei es den Fötus. Darin besteht im Kern die "Fristenlösung". In dieser "Schonzeit" fällt auch die Pflicht des Staates dahin, allfällige Mittäter, Anstifter oder Gehilfen zu bestrafen, die bei einer - an sich strafbaren - Abtreibung mitgewirkt haben.

Gegen diese Abänderung der Strafrechtsbestimmungen richtet sich jetzt das Referendum, das sicher stellen will, dass das Volk über diese Änderung abstimmen kann. Die Frist zur Einreichung des Referendums läuft am 12. Juli 2001 ab. Im Zusammenhang mit dieser Strafrechtsänderung schlägt die Bundesversammlung ausserdem eine Änderung des Art. 30 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung vor. Sie schreibt vor, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten eines straflosen Schwangerschaftsabbruchs - wie für eine Krankheit - zu übernehmen hat (vgl. Kasten).

Die rechtliche Analyse

Analysiert man die neue Abtreibungsregelung, so ergeben sich vorab drei Haupterkenntnisse, die rechtsethisch von Bedeutung sind:

1. Während der ersten zwölf Wochen des Lebens des ungeborenen Kindes verzichtet der Staat auf den strafrechtlich bedeutsamen Schutz des ungeborenen Kindes. Obschon er in zahlreichen Bestimmungen des Strafgesetzes und mit vielen anderen Gesetzen Leib und Leben des Menschen durch Strafnormen (vgl. Art. 111 - 136 StGB) schützt, bleibt das wehrlose ungeborene Kind während dieser drei Monate ohne Schutz. Dies ist die logische Folge der sogenannten "Entkriminalisierung" der Frau und allfälliger mitwirkender Drittpersonen.

Im Mittelpunkt der Bemühungen des Parlamentes steht die Entlastung der abtreibenden schwangeren Frau. Diese Entlastung wird mit der Forderung nach Selbstbestimmung und dem freien Verfügungsrecht der Frau begründet. Bei solcher gesetzlicher Schutzlosigkeit des Kindes ist die Frau jedoch, wie die Erfahrung vieler Beratungsstellen zeigt, in vielen Fällen dem Druck des sozialen Umfeldes (Gatte, Freund, Eltern, Verwandte usw.) ausgesetzt.

2. Überblickt man die lange Dauer der Beratung (seit 1995!) der neuen, durch die parlamentarische Initiative von Nationalrätin Barbara Häring 1993 ausgelösten Abtreibungsregelung und die zahlreichen einzelnen Voten der Parlamentarierinnen und Parlamentarier, so darf man dem Parlament zugestehen, dass wohl die Mehrzahl der Mitglieder von National- und Ständerat das Dilemma zwischen dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes und dem Recht zur freien Verfügung und zur freien Entfaltung der schwangeren Frau erkannte und um eine gerechte Gewichtung der beiden Rechtsgüter rang. Sichtbare Spuren dieses Ringens um den Schutz des ungeborenen Kindes im Rahmen der Fristenlösung sind:

- Die abtreibungswillige Frau hat der Ärztin oder dem Arzt ein schriftliches Gesuch um Vornahme der Abtreibung einzureichen.

- Sie muss in diesem schriftlichen Gesuch geltend machen, sie befinde sich in einer "Notlage

- état de détresse". Diese recht vage Erklärung unterliegt allerdings keiner Nachweispflicht, und dem Arzt obliegt keine rechtliche Überprüfungspflicht. Sie löst keine Abwägung der Rechtsgüter zwischen Frau und ungeborenem Kind aus. Sie ist rechtsunwirksam. Doch mag sie die abtreibungswillige Frau auf den ethischen Aspekt ihrer Entscheidung aufmerksam machen.

- Arzt oder Ärztin sind unter Strafandrohung verpflichtet, ein schriftliches Gesuch zu verlangen, mit der Frau persönlich ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zugleich zu beraten, sie über die Risiken des Eingriffs zu informieren, ihr über Beratungs- und Hilfsstellen einen Leitfaden auszuhändigen und über die Möglichkeit Auskunft zu geben, das geborene Kind zur Adoption freizugeben.

- Arzt oder Ärztin sind unter Strafandrohung gehalten, die vorgenommene Abtreibung unter Wahrung des Arztgeheimnisses der zuständigen Gesundheitsbehörde zu melden. Damit erhält der Staat Einblick in die Entwicklung der Zahl der Abtreibungen und kann so die Tauglichkeit der neuen Regelung überprüfen.

- In Art. 118 StGB hält der Gesetzgeber an der prinzipiellen Strafbarkeit der Abtreibung fest, sobald die ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft verflossen sind. Trotz dieser Spuren bleibt das Faktum bestehen, dass der Gesetzgeber das Lebensrecht des ungeborenen Kindes nicht beachtet, dagegen (während drei Monaten) die alleinige Entscheidungsmacht der abtreibungswilligen Frau in vollem Ausmass respektiert hat. Diese "Fristenlösung" erscheint unter dem sozialethischen Aspekt deshalb so schwerwiegend, weil sie generell jede abtreibende Frau von einer Strafe ausnimmt. Sie schliesst von vornherein jede Rechtsgüterabwägung aus. Sie gibt den Schutz des Rechtes auf Leben und Existenz des ungeborenen Kindes preis.

Das der Abtreibung vorgeschaltete Beratungsobligatorium, das die CVP vorschlug, stellt ebenso eine "Fristenlösung" dar, der man die gleichen sozialethischen Einwände entgegenhalten muss wie der im Gesetzesentwurf enthaltenen "Lösung". Sie bringt zwar eine gewisse Verbesserung des Kindes-Schutzes und bedeutet insofern ein "geringeres Übel" im Vergleich zur offiziellen Regelung. Aber im Kern hält sie sich an das "Modell" einer Fristenlösung.

In Art. 119 Abs. 1 StGB findet sich sodann das "Einfalltor" zur straflosen Abtreibung während der ganzen Dauer der Schwangerschaft: Bei "Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage", die nach ärztlichem Urteil nur durch eine Abtreibung abgewendet werden kann. Darin läge, wie die willkürliche Auslegung der heute noch geltenden Abtreibungsregelung drastisch zeigt, die Möglichkeit einer willkürlichen Interpretation vor allem des Begriffes einer "schweren seelischen Notlage". Diese Gefahr einer gesetzeswidrigen Auslegung liegt so nahe, dass der Straflosigkeit faktisch keine Grenze gesetzt ist und das ungeborene Kind bis kurz vor der Geburt straflos abgetrieben werden kann. Nur der für die Abtreibung vorgesehene Arzt, und keine aussenstehende neutrale Person, wäre für diese Rechtsentscheidung zuständig - und damit für den Entscheid über Leben oder Tod des Kindes.

3. Eine Indikationenlösung, die darin bestünde, jede Abtreibung grundsätzlich zu bestrafen und Ausnahmen von der Bestrafung nur in ganz bestimmten Fällen (zum Beispiel Zeugung eines Kindes durch eine strafbare Handlung wie Vergewaltigung, Inzest usw.) zuzulassen, fasste das Parlament nicht ins Auge. Mit dieser Indikationenlösung hätte der Staat jedoch einen weitgehenden, unbefristeten Schutz des ungeborenen Kindes sicherstellen können. Dem Rechtsgut der Selbstbestimmung der Frau hätte er - in Abwägung des Rechtes auf Leben des ungeborenen Kindes einerseits und des Respekts vor der Selbstbestimmung der Frau anderseits - in genau bestimmten Fällen Rechnung tragen können.

Tötungsverbot schliesst jede Fristenlösung aus

Wenn das werdende Kind im Mutterleib ein menschliches Individuum ist, dem Personalität und Würde zukommt (vgl. die Ausführungen S. 4 - 5), so ist die Abtreibung vorsätzliche Tötung eines Menschen. Unter dem Aspekt des Unrechtsgehaltes und der Sozialschädlichkeit betrachtet, ist diese Tat durchaus dem Vorgang vergleichbar, der sich bei der aktiven Sterbehilfe zum Nachteil des leidenden, hochgebrechlichen und hochbetagten Menschen ereignet, der nicht mehr im Besitz aller - durch sein Leben hindurch entwickelten - physiologischen, seelischen und geistigen Fähigkeiten ist. Der Ausdruck "Schwangerschaftsabbruch", und noch mehr die Bezeichnung "Schwangerschaftsunterbrechung", verdeckt diesen Sachverhalt. Er verschweigt, dass mit dem "Abbruch" oder der "Unterbrechung" die Tötung eines menschlichen Individuums verbunden ist.

In ähnlicher Weise verdeckt der Ruf nach "Liberalisierung" der Abtreibungsregelung die Tatsache, dass Straflosigkeit, wenn sie auch "nur" während drei Monaten gilt, den Rechtsschutz für den werdenden Menschen vorübergehend ganz aufhebt, und dass sich eine solche gesetzliche Lösung nicht als "liberal", sondern unter dem Aspekt des Existenzrechts des werdenden Menschen als repressiv erweist.

Ein vorsätzlicher Tötungsakt aber fällt - wenn keine reale Notwehrsituation vorliegt - unter das Tötungsverbot. Das Tötungsverbot aber gehört zu den grossen alten, ethischen und religiösen Traditionen der Menschheit - über alle Religionsgemeinschaften und über alle Kulturepochen auf allen Kontinenten hinweg. Dass es auch zum Kernbestand der ethischen Pflichten der Christen gleich welcher Konfession gehört, unterliegt keinem Zweifel. Aber man muss nicht Christ sein, um diese Zusammenhänge und die entsprechende ethische Verantwortung zu begreifen. Jeder "säkulare" Zeitgenosse kann das einsehen. Unter den "säkularen" humanen Gütern ist das Leben, in welchem Entwicklungsstand immer es sich befinden mag, das höchste Gut. Eine "uralte" menschheitsgeschichtlich verifizierbare Weisung besagt denn auch: "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt" (Küng/Kuschel "Erklärung zum Weltethos, S. 29 f.).

Die Pflicht zur "pränatalen Solidarität"

Eine solidarische Gesellschaft muss anerkennen, dass das ungeborene, aber lebende Kind schon zur menschlichen Gesellschaft gehört.1 Ihm schuldet die "Gesellschaft", d.h. hier der Staat, das Recht, das "Licht der Welt" erblicken und sich gemäss den allesamt schon vorhandenen Anlagen entfalten zu dürfen. Der Staat ist dazu berufen, das Recht zur Existenz des ungeborenen Kindes zu sichern - als ultima ratio mit strafrechtlichen Mitteln. Der Schutz des Lebens gehört zu den primären Aufgaben des zeitgemässen Rechtsstaates. M

Die neuen Bestimmungen im Wortlaut

Art. 119

1 Der Abbruch einer Schwangerschaft ist straflos, wenn er nach ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann. Die Gefahr muss umso grösser sein, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist.

2 Der Abbruch einer Schwangerschaft ist ebenfalls straflos, wenn er innerhalb von zwölf Wochen seit Beginn der letzten Periode auf schriftliches Verlangen der schwangeren Frau, die geltend macht, sie befinde sich in einer Notlage, durch eine zur Berufsausübung zugelassene Ärztin oder einen zur Berufsausübung zugelassenen Arzt vorgenommen wird. Die Ärztin oder der Arzt hat persönlich mit der Frau vorher ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten.

3 Ist die Frau nicht urteilsfähig, so ist die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreterin oder ihres gesetzlichen Vertreters erforderlich.

4 Die Kantone bezeichnen die Praxen und Spitäler, welche die Voraussetzungen für eine fachgerechte Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und für eine eingehende Beratung erfüllen.

5 Ein Schwangerschaftsabbruch wird zu statistischen Zwecken der zuständigen Gesundheitsbehörde gemeldet, wobei die Anonymität der betroffenen Frau gewährleistet wird und das Arztgeheimnis zu wahren ist. Art. 120

1 Mit Haft oder mit Busse wird die Ärztin oder der Arzt bestraft1, die oder der eine Schwangerschaft in Anwendung von Artikel 119 Absatz 2 abbricht und es unterlässt, vor dem Eingriff:

a) von der schwangeren Frau ein schriftliches Gesuch zu verlangen;

b) persönlich mit der schwangeren Frau ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten, sie über die gesundheitlichen Risiken des Eingriffs zu informieren und ihr gegen Unterschrift einen Leitfaden auszuhändigen, welcher enthält:

1. ein Verzeichnis der kostenlos zur Verfügung stehenden Beratungsstellen,

2. ein Verzeichnis von Vereinen und Stellen, welche moralische und materielle Hilfe anbieten, und

3. Auskunft über die Möglichkeit, das geborene Kind zur Adoption freizugeben.

c) sich persönlich zu vergewissern, dass eine schwangere Frau unter 16 Jahren sich an eine für Jugendliche spezialisierte Beratungsstelle gewandt hat.

1 Ebenso wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der es unterlässt, gemäss Artikel 119 Absatz 5 einen Schwangerschaftsabbruch der zuständigen Gesundheitsbehörde zu melden.

Datum: 06.05.2002
Quelle: Bausteine/VBG

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