Spezielle Gottesdienste

Auf Demenzkranke eingehen

Zwölf Mal hintereinander sagt Beatrix Michels an diesem Nachmittag den gleichen Satz. «Guten Tag, ich bin die Frau Michels, und ich möchte heute einen Gottesdienst mit Ihnen feiern.»
Spezielle Gottesdienste

Sie spricht ihre Worte langsam, umschliesst dabei die teils zittrigen Hände ihrer Gäste. Sie streichelt sie und lächelt. Nur so erreicht Michels die Teilnehmer. Denn die Göttinger Altenseelsorgerin gestaltet Andachten speziell für demenzkranke Menschen.

Nachfrage steigt

«Ich habe es schon erlebt, dass jemand ein halbes Jahr lang nur noch stotterte. Während des Gottesdienstes fing er plötzlich an zu singen, seine Hände zu falten und zu beten», sagt Michels. Die 55-Jährige organisiert Andachten. Die Nachfrage steige immer mehr. Deshalb bilde die Göttinger Altenheimseelsorge zurzeit Ehrenamtliche dafür aus. Mit «normalen» Gottesdiensten lassen sich viele Demenzkranke nicht mehr ansprechen, sagt Michels. Nach ihren Andachten sei es in manchen Häusern noch Stunden später ruhiger.

Erinnerungen an die Kindheit

Auch Wissenschaftler fordern mehr Rücksicht auf die Religiosität von Demenzkranken. Religion wirke auch bei ihnen oft als Lebenshilfe in schwierigen Situationen und steigere die Lebensqualität, sagte die Nürnberger Pflegewissenschaftlerin Barbara Städtler-Mach. Nach einer Studie müsse die Frage, ob Demenzkranke überhaupt noch religiös sein können, unbedingt bejaht werden. Rituale wie Kirchenlieder weckten bei vielen religiöse Erinnerungen an ihre Kindheit.

Im Herbst, nach dem Erntedankfest, schmückt Michels den Tisch gemeinsam mit den Senioren mit Kartoffeln, einem Kürbis, Zwiebeln und Brot. «Jetzt wollen wir unseren Gottesdienst beginnen. Im Namen des Vaters», sagt Michels. «Des Sohnes und des Heiligen Geistes» stimmen die meisten Senioren ein. Einer Bewohnerin kommen die Tränen. «Bei ihr kommen da immer viele Erinnerungen hoch», sagt Pflegerin Doris Busse.

Gefühl zuletzt betroffen

«Das Gefühlszentrum im Gehirn ist von der Demenz erst ganz zum Schluss betroffen», erläutert der evangelische Pastor Klaus Depping aus Hannover, der sich seit über 20 Jahren mit dem Thema beschäftigt.

Demenz-Gottesdienste seien sehr handlungsorientiert. «Ich habe mal Bilder vom sinkenden Petrus gezeigt, und dann haben die Teilnehmer die Geschichte erkannt und erzählt.» Gerade die Generation, die jetzt an Demenz erkrankt, habe noch ein starkes Bedürfnis nach spiritueller Religiosität, ist sich Depping sicher. «In der Schule haben viele von ihnen noch Choräle und biblische Geschichten auswendig gelernt.»

Gehirn reagiert langsamer

In dem Göttinger Seniorenheim singen die Bewohner zum Ende der Andacht «Grosser Gott wir loben Dich». Nur einer von ihnen starrt stumm auf den ausgeteilten laminierten Text. «So ein Gottesdienst benötigt auch Pausen», sagt Depping. Denn die Informationen suchen sich den Weg durch das Gehirn viel langsamer. Zusätzlich spiele der Körperkontakt eine wichtige Rolle. «Wenn die Hände umschlossen werden, entsteht ein Wärmeempfinden. Das bewirkt ein Gefühl des Zuhauseseins», erläutert der Pastor.
 

Datum: 04.11.2010
Quelle: Epd

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