Modediagnose ADHS

Wilde Jungs unerwünscht?

Wie brav, gefügig und angepasst müssen Knaben sein, um als gesund zu gelten? Für all jene, die nicht still sitzen wollen und sich schlecht konzentrieren können, gibt’s seit Jahren Ritalin. Die Verschreibung des Mittels hat zugenommen. Dies ruft Kritiker auf den Plan.
ADHS

    
Für Ritalin-Kritiker ist das Mittel eine «Pille gegen eine erfundene Krankheit». ADHS wird als fiktive Diagnose gesehen – für schwierige Jungs. «Die Pille macht sie glatt, gefügig, still und abhängig», so die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auch in der Schweiz werden fast viermal so viele Knaben wie Mädchen gegen die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) behandelt; dies hat eben das Bundesamt für Gesundheit BAG festgestellt.

CH: Mehr Ritalin verschrieben

Laut dem BAG-Bulletin hat zwischen 2005 und 2008 die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Ritalin um 40 Prozent zugenommen. Das BAG untersuchte die Verschreibungen bei drei grossen Krankenkassen. Im Jahr 2008 bezogen 85 von 10'000 Kindern bis zum Alter von 18 Jahren den Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat. Der Anteil der Kinder mit ADHS wird auf 2 – 10 Prozent geschätzt.

Boom in Deutschland

Die eingenommene Wirkstoffmenge stieg in der Vierjahresspanne von durchschnittlich 5 auf 5,5 Gramm pro Jahr. Drei von vier Kinder erhielten das Mittel von Spezialärzten verschrieben; sie nahmen es im Schnitt an 275 Tagen ein. In Deutschland ist die verschriebene Gesamtmenge des Wirkstoffs gemäss der Zeitschrift «Psychotherapie und Seelsorge» (P&S) explodiert: von 34 Kilo im Jahr 1993 auf fast 1800 Kilo im Jahr 2010.

ADHS eine «fabrizierte Erkrankung»

Die Diagnose ADHS schuf der US-Psychiater Leon Eisenberg in den späten Sechzigerjahren. Vier Jahrzehnte später – angesichts des Ritalin-Booms – hatten Eisenberg Zweifel beschlichen. Kurz vor seinem Tod bezeichnete er selbst ADHS als «ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung».

Freiräume fehlen

Zur Frage, ob Knaben, die über die Stränge schlagen und sich nicht an Regeln halten, psychisch krank sind, zitiert P&S das Urteil des Bremer Pharmakologen Gerd Glaeske in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: «Unsere Systeme sind für Jungen unfreundlich geworden.» Knaben suchten das Risiko, hätten aber die Freiräume nicht mehr. Glaeske: «Wenn man sagt, dass Jungen stören, muss man auch über die reden, die sich davon gestört fühlen.»

Was früher als Fähigkeit galt…

Ulrich Fegeler vom deutschen Berufsverband für Kinder- und Jugendmedizin sieht die Schwächen der ADHS-Kinder in der Schule als Reaktionen auf das einengende gesellschaftliche Umfeld. Die Kinder hätten regelmässig kein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern seien eher zu aufmerksam: Sie nähmen jeden Reiz wichtig. Früher habe man solche Menschen hoch geachtet als «Kämpfer, Jäger und Wächter mit einem besonderen Gespür für ihre Umwelt». 

Diskussionsbeiträge zu diesem Thema sind bei der Redaktion erwünscht.

Buch zum Thema:
Astrid Neuy-Bartmann –«ADS - erfolgreiche Strategien für Kinder und Erwachsene»

Datum: 27.06.2012
Quelle: Livenet / BAG / P&S

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