Irak: Christliche Minderheit uneins über Verfassungstext

Emanuel-Karim Delly(rechts)
Oekumenischer Gottesdienst in der National Protestant Church

In der christlichen Minderheit im Irak gibt es unterschiedliche Meinungen über den Entwurf für eine Interims-Verfassung des besetzten Landes. Ende Juni sollen die Befugnisse von den Besatzungsbehörden an eine irakische Selbstverwaltung übergehen. Rund eine Million Christen blicken diesem Datum mit Besorgnis entgegen.

Der chaldäische Patriarch von Bagdad, Emmanuel-Karim Delly, erklärte, er sei "völlig einverstanden" mit dem jetzigen Verfassungsentwurf. Die irakischen Christen hätten gemeinsam mit den Muslimen an der Formulierung des Textes mitgewirkt. "Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass sie 96 Prozent der Bevölkerung unseres Landes stellen", sagte der Patriarch. Indirekt wies er damit die Kritik des Bischofs in Bagdad, Shlimon Warduni, zurück, der eine Passage des Verfassungsentwurfs kritisiert hatte, weil darin generell "anti-islamische" Gesetze als unzulässig bezeichnet werden.

Nichts darf dem Islam zuwiderlaufen

Die Verfassung sieht zwar erfreulich genaue Bestimmungen für eine Autonomie der kurdischen Volksgruppe und weitgehende Sonderrechte für die 60 Prozent Schiiten im Süden vor, von der christlichen Minorität ist aber nirgends die Rede.

Grundsätzlich bekennt sich dieses Grundgesetz für einen besseren Irak nach Saddam Hussein zur Religionsfreiheit, doch wird diese sofort wieder durch die Neueinführung des islamischen Rechtes kräftig beschnitten.

Das alte Regime war zwar eine brutale Diktatur, doch immerhin einer weltlichen Ordnung verpflichtet. Unter Saddam gab es wohl keine politische, aber immerhin Religionsfreiheit ohne Bevorzugung des Islams. Jetzt wird das islamische Religionsrecht "eine" Grundlage der neuen Ordnung am Euphrat und Tigris. Das heisst, dass zwar nicht alles vom Islam bestimmt wird, aber ihm auch nichts zuwiderlaufen darf.

Für die mehrheitlich ostkatholischen und orthodoxen Christen des Irak bedeutet das bestenfalls eine beschränkte Kultfreiheit. Ihr Gottesdienst und ihr Gemeindeleben müssen sich "unauffällig" abspielen, der Neubau von Kirchen ist in der Regel nicht gestattet, allen karitativen und sonstigen Aktivitäten wird ein enger Rahmen gesetzt.

Keine Verkündigung unter Muslimen

Vor allem verbieten das islamische Recht und damit die neue irakische Verfassung jede christliche Verkündigung unter den Muslimen. Das Recht auf Mission gehört aber unveräusserlich zur Religionsfreiheit. Das unterstrich auch der einzige christliche Vertreter im irakischen Verwaltungsrat, Younadam Kanna, aus den Reihen der altorientalischen assyrischen Kirche. Leider vergeblich.

Zunächst waren in den Regierungsrat trotz seiner christlichen Untervertretung einige Hoffnungen gesetzt worden. Vor allem nach seinem Beschluss vom letzten Herbst, die in Saddams Spätphase verstaatlichten Klosterschulen und höheren kirchlichen Lehranstalten wieder zurückzugeben. So konnte auch die katholische Babel-Universität ihren Betrieb in diesem Wintersemester wieder aufnehmen. Umso grösser ist jetzt die Enttäuschung über die einseitige Bevorzugung des Islams in der neuen Verfassung.

Vorwurf der Kollaboration mit Saddam

Dazu kommt die Tatsache, dass die stärkste christliche Kirche des Irak, die katholischen Chaldäer, nach wie vor vom Regierungsrat ausgeschlossen sind. Auch die Wahl ihres neuen, seinerzeit unter Saddam schon in den Ruhestand versetzten Patriarchen Emmanuel Delly hat keinen Wandel in der ablehnenden Haltung von US-Irak-Verwalter Bremer zur chaldäischen Kirche mit sich gebracht.

Ihr wird von den Amerikanern Kollaboration mit dem Saddam-Regime vorgeworfen – dessen langjähriger Aussenminister und Stellvertreter Saddam Husseins war ursprünglich Chaldäer, aber seinem Glauben schon längst zugunsten der antiklerikalen Ideologie des Baath-Sozialismus entfremdet. Dennoch dürfen chaldäische Katholiken heute im Irak noch immer nur auf lokaler und kommunaler Ebene mitregieren, so in Mossul, Kirkuk oder Basra.

Mehr Terror gegen Christen

Zunehmend Sorge bereitet auch die Tatsache, dass der gezielte Terror gegen Christen weiter zunimmt. Zwar nicht in dem Ausmass wie gegen die schiitische Richtung des Islams am letzten Dienstag, dem Aschura-Fest, in den heiligen Städten Kerbela und Kassimain (heute nördlicher Vorort von Bagdad), doch immerhin bedrohlich: Waren es bisher vor allem unverschleierte Frauen und mit Alkohol handelnde Geschäftsleute, die seit Kriegsende unter der Gewalt militanter Muslime – meist Sunniten, aber auch Schiiten – zu leiden hatten, so häufen sich neuerdings Attentate gegen Kirchen, Pfarrer und christliche Hilfswerke.

Datum: 05.03.2004
Quelle: Kipa

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