Eine Woche in Vietnam

Der Traum von Than Duc Linh

Iris Muhl berichtet direkt aus Vietnam. Sie besucht mit einer Mitarbeiterin von World Vision verschiedene Projekte und sendet jeden Tag ihre Eindrücke exklusiv an Livenet.ch.
Than Duc Linh

Die Geschichte von Than Duc Linh, 21, ist etwas anders, denn sie ist noch schwieriger als andere Lebensgeschichten von Teenagern aus Vietnam. Das spürt man bereits, wenn man das Haus betritt. Es ist dunkel, aber nicht wegen den türkisfarbenen Wänden, sondern weil der Sohn eines kranken Mannes und einer Bauarbeiterin gelähmt ist. Than sitzt auf dem Bett und freut sich über unseren Besuch. Sein Rollstuhl steht vor der Tür. Hier, in diesem einfachen Haus, ist nichts rollstuhlgängig. Er wirft immer wieder seine Hände in die Luft, manchmal unkontrolliert, so, als ob er seine den ganzen Enthusiasmus in den Händen hätte.

Und das hat er auch. Denn er macht bald seinen Schulabschluss und will auf die Universität. Er will Informatik studieren, Computerfachmann. Seine Hände und sein Kopf sind sein Werkszeug. Die Mutter fährt den Sohn deshalb täglich mit dem Fahrrad in die Schule! Than sitzt hinten drauf. So einfach geht das hier. Than bekommt die Hälfte des Schulgeldes von World Vision. Er bedankt sich überschwänglich und erzählt, dass er seit 2008 viele Freunde an der Schule gefunden habe. Früher hatte er keine Freunde. Er war isoliert. Ans Bett gefesselt.

Than war eine Frühgeburt. Als die Mutter im siebten Monat war, wurde er mit 1,2 Kilogramm geboren. Dass er jetzt noch lebt, gleicht einem Wunder. Und es scheint auch ein Wunder in seinem Leben geschehen zu sein. Er blüht auf, wenn er von der Schule erzählt, dann schwingt er wieder seine Hände und erzählt von der Universität, auf die er bald gehen wird. Er ist sichtlich stolz, dass er das als Mann im Rollstuhl schaffen will. Ich denke insgeheim, dass er mehr Courage hat als mancher von uns mit Beinen.

Sein Vater wälzt sich hinten aus dem Bett. Es riecht säuerlich nach Alkohol. Er grüsst uns nicht und bleibt im Dunkeln sitzen. Es ist wie in einem kafkaesken Roman, ziemlich sureal. Der Vater sei krank, sagt Hun, Leiter von World Vision in Haiphong und unser Übersetzer. Er habe ein «mentales Problem». Hun ist diplomatisch und will niemanden verurteilen. Der Mann war deswegen nie beim Arzt, deshalb schwebt dieses Problem wie dunkles Unheil in diesem Haus. Hun erzählt auf Englisch, dass der Vater, wenn es besonders schlecht geht, seine Ehefrau und seinen Sohn schlägt. Die Sozialarbeiterin, die uns begleitet, nickt dabei. Thans Mutter erzählt danach ganz leise, dass sie tagsüber auf der Baustelle arbeitet, um das Einkommen für die Familie zu verdienen. Tabea erklärt mir, dass hier die Frauen die schwerste Arbeit auf dem Bau übernehmen müssen. Sie tragen Eisenstäbe, Steine und Bretter, während die Männer die übrige Arbeit erledigen.

Warum hat Than eigentlich diesen Traum von Karriere? «Ich habe einen gelähmten Mann im Fernsehen gesehen, der auch Karriere gemacht hat dank guter Ausbildung. Deshalb will ich das auch.» Ich freue mich über seinen offenen Geist, seinen Enthusiasmus und das grosse Interesse an seinen Studien. Diesmal sage ich ihm alles auf Schweizerdeutsch, weil ich keine Worte im Englischen finde. Ich bin sehr gerührt. Dann sagt Than, dass er einmal gerne heiraten will, wenn er sein Studium abgeschlossen hat. Ob er wohl irgendwann Kinder haben wird? Hun will ihn das nicht fragen, das ist zu persönlich für Vietnamesen und eine Beleidung. Ich frage, was denn mit ihm wäre, wenn er keine Unterstützung von World Vision bekommen hätte. Auch das war wohl ein grosser Fehler von mir, denn Than beginnt gleich zu weinen. Niemand fragt, weshalb er weint. Wir wissen und spüren es alle und wir warten.

Einen Moment lang ist es still im Haus. Than hätte ohne Unterstützung keine Chance auf ein besseres Leben. Er würde Tag für Tag in diesem dunklen Haus bleiben, fernsehen und sich die Leute auf der Mattscheibe ansehen, die in der Welt weiterkommen möchten und weitergekommen sind. Jetzt ist aber Than einer von ihnen. Auch Than will und wird weiterkommen und vor allem: Er will aus diesem Haus herauskommen. Sein Vater kann ihm nicht helfen, denn er ist selbst hilflos. Nur die Mutter kann helfen. Und diese spricht wieder sehr leise, weil auch sie an diesen Mann gebunden ist. Sie will nicht, dass ihr Mann auf irgendeine Weise wütend werden kann auf sie und ihren Sohn.

«Hast du einen Computer?», frage ich Than zum Abschluss. Ja, meint er, er erhalte bald einen alten von seinem Onkel. So wird er auch zu Hause am Computer arbeiten können. Zum Abschied drücken wir Than unsere Hochachtung aus für seinen Arbeitseifer und bedanken uns bei der Mutter. Dann danken wir trotz allem auch dem stillen Vater, der immer noch in der dunklen Ecke sitzt, für das, was er der Familie beisteuern kann. Er hebt die Hand und winkt uns zum Abschied zu. Betroffen gehen wir zum Auto.

Hun von World Vision und die Sozialarbeiterin versuchen in dieser Familie zu vermitteln. Doch so einfach ist das nicht. Tabea verrät, dass sie während dem Gespräch für die Mutter gebetet habe, weil so viel Druck auf der Frau liegt. Ich bin dankbar für die Chance, die Than so vorbildlich packt.

Der erste Tag: Hupen als freundliches Zeichen
Der zweite Tag: Die Boatpeople
Der dritte Tag: «Ich will Dolmetscherin werden»

Datum: 12.12.2009
Autor: Iris Muhl
Quelle: Livenet.ch

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service