Es scheint mir das Erschreckendste an diesem Massenmord zu sein, dass er sich gängigen aber auch klassischen Erklärungsmustern verschliesst. Als “Amoklauf” bezeichnen noch jetzt viele Medien das Geschehen, obgleich als gesichert gilt, dass der Täter keineswegs ausser sich war. Es ist auch nicht erkennbar, dass er psychisch gestört gewesen ist: Alles, was jetzt von Mitschülern, Lehrern und Nachbarn berichtet wird, ist gänzlich unspektakulär, lässt sich über unzählige Gleichaltrige sagen und auch in der Rückschau nicht als Vorzeichen der Bluttat deuten. Dass er seinen Eltern verschwieg, wegen einer Attestfälschung von der Schule verwiesen wurde, deutet auf Kommunikationsschwierigkeiten hin; aber auch das ist in diesem Alter nichts Aussergewöhnliches. Bleibt die Tatsache, dass er oft vor dem Computer sass und zahlreiche gewaltträchtige Spiele und Videos besass. Aber ist das heute ungewöhnlich? Ferner war er Mitglied in zwei Schützenvereinen. Aber macht das verdächtig? Es bleibt das Bild eines ganz normalen jungen Mannes. Gerade deshalb aber sollte sie uns zum Fanal werden. Junge Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft fühlen sich trotz aller äusseren Versorgtheit orientierungslos und verloren. Das Böse im Menschen ist oft entsetzlich banal und vor allem: unausrottbar. Kinder sind heute nicht mehr selbstverständliche Gabe Gottes, sondern verfügbares Gut. Meinen wir, unsere Kinder würden nicht die Unglaubwürdigkeit erspüren, die es bedeutet, wenn in einem Atemzug verlangt wird, sogenannte Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, weil die Kinder zu den “schwächsten Gliedern” in unserer Gesellschaft zählen, andererseits das Kind in seinem schutzwürdigsten Zustand – nämlich als ungeborenes, aber bereits existierendes Leben – der Abtreibung anheimgegeben ist? Für die 17 Erfurter Toten gab es einen Staatsakt, die rund 3.000 ungeborenen Kinder, die allwöchentlich im Mutterleib mit staatlicher Genehmigung getötet werden, nimmt kaum noch jemand zur Kenntnis. Die Parteien übertreffen sich zur Zeit mit Vorschlägen für finanzielle Wohltaten an die Familien. In den Diskussionen freilich entdeckt man die Kinder vorwiegend in ihrer Rolle als Karriereverhinderer oder als zukünftige Rentenzahler. Und als Kostenfaktor. Aufzucht und Erziehung eines Kindes entsprechen dem Wert eines Einfamilienhauses. Und bitte: Wir brauchen und lieben zwar Kinder, aber stören dürfen sie nicht. Deshalb Kinderkrippe und Ganztagsschule für alle. Meinen wir, unsere Kinder würden nicht den Kern dieser Debatten erspüren, in dem sie nicht als geliebte Wesen, sondern als Objekt kommerzieller Erwägungen stehen? Kindern Geborgenheit und Orientierung zu geben, ist heute ungleich schwerer als früher, weil es gegen den gesellschaftlichen Trend ist. Kinder brauchen Liebe und Glauben, und das hat nichts mit Geld zu tun. Der Autor, Justizminister a.D. Steffen Heitmann (Dresden), ist Mitglied des Sächsischen Landtags und Mitherausgeber des “Rheinischen Merkur”.Ein normaler junger Mann?
Dieser Staatsakt fehlt
Datum: 11.05.2002
Autor: Steffen Heitmann
Quelle: idea Deutschland