Predigt im Raucherraum
Allein in der Stadt Zürich übernachten geschätzt 36 Frauen und Männer sommers wie winters im Freien. Andreas Käser hatte das Privileg, noch mit Pfarrer Sieber auf der Gasse unterwegs gewesen zu sein. «Das war sehr lehrreich», erinnert er sich. «Mich überzeugte, wie der Pfarrer mit den Leuten sprach. Ernst sagte oft zu mir: ‚Bei allem, was du tust – stell das Kreuz stets ins Zentrum!‘»
Der gelernte Schreiner Andreas Käser hatte auf einer Himalaya-Reise ein tiefgreifendes Glaubenserlebnis. Nach dem Masterabschluss in Theologie arbeitete Andreas Käser ein paar Jahre als Pfarrer. Berufsbegleitend machte er eine Weiterbildung im Bereich der Psychotherapie. Beim SWS fand er seine Bestimmung, wie er sagt. «Ich bin dankbar, dass ich meinen Dienst an Menschen auf der Grundlage des Evangeliums gestalten darf. So bin ich oft selbst der Beschenkte.»
Freunde von der Gasse
Die Arbeit auf der Gasse sei enorm kräftezehrend. Da sei es wichtig, selbst über genügend Kraftquellen zu verfügen. Gerade weil man als Seelsorger in Beziehungen investiere und oft unwiederbringlich von Freunden von der Gasse Abschied nehmen müsse. «Der Glaube stärkt und bereichert mich nachhaltig.» Andreas Käser ist ein engagierter Seelsorger, begleitet Menschen, die er liebevoll die «Freunde von der Gasse» nennt. In seinem Beruf trifft er auf Personen, die es schwer im Leben haben, und hört ihnen aufmerksam zu, statt viel zu reden. Besonders bewegend war für ihn die Begegnung mit einem ehemaligen Freund von der Gasse, den er nach Jahren kaum wiedererkannte: gut gekleidet und fest im Leben stehend, berichtet Tele Top. Auch TeleM1 brachte eine Reportage über ihn.
Gassenkirche ohne festen Standort
Obdachlose, suchtkranke und andere randständige Menschen haben den Kontakt zur Institution Kirche häufig längst verloren. Die neue Gassenkirche soll ihnen in der Tradition von Pfarrer Siebers Engagement Ort der Begegnung, Gemeinschaft und seelischen Stärkung sein. In der Gassenkirche wirken die Angesprochenen aktiv mit und sorgen so dafür, dass das niederschwellige, örtlich ungebundene Angebot für sie geistliche und gemeinschaftliche Heimat wird. Die Gassenkirche ist nicht an einen Ort bzw. ein Gebäude gebunden, sondern findet in verschiedenen Lokalitäten und öffentlichen Räumen statt. So hält Seelsorger Andreas Käser seine Predigt auch mal im Raucherraum: Er spricht zu einer kleinen, sehr ehrlichen Gemeinde. Wer etwas nicht versteht oder unglaubwürdig findet, meldet sich zu Wort.
Der Innovationsfonds der reformierten Kirche unterstützt das Projekt mit 200’000 Franken. Gleich viel steuert die katholische Kirche bei. Nach einer dreijährigen Pilotphase soll die Gassenkirche in tragfähige Strukturen überführt werden. «Wenn man will, wird man eine Lösung finden», sagt Mathias Burri, Leiter Bereich Gemeindeentwicklung und Innovation in der Zürcher Landeskirche. So bekam etwa das Flughafenpfarramt eine ökumenische Trägerschaft, die Streetchurch ist Teil der Kirchgemeinde Zürich geworden, berichtet «reformiert».
Aus der Isolation führen
Treibende Kraft hinter der Gassenkirche ist Friederike Rass. Für die Gesamtleiterin des Sozialwerks gibt es für die Gassenkirche eine doppelte Notwendigkeit. Einerseits habe Ernst Sieber das Werk immer als Gemeinde geführt. «Was wir tun, steht auf dem theologischen Fundament der Kirche.» Andererseits eröffne die Gassenkirche einen Raum der Versöhnung, mit sich selbst ebenso wie mit anderen Menschen. «Hier wird nur miteinander geredet und nicht übereinander», sagt die Theologin.
Der Zürcher Pfarrer Ernst Sieber hatte 1988 für Obdachlose und Drogenabhängige eine Stiftung gegründet, die mittlerweile zwölf Einrichtungen zählt und 200 Angestellte sowie 300 Freiwillige beschäftigt. Pfarrer Sieber starb 2018. Er war Knecht, Gemeindepfarrer, Künstler und EVP-Nationalrat.
Dieser Beitrag erschien zuerst als Dienstagsmail Nr. 903.
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Autor:
Markus Baumgartner
Quelle:
Dienstagsmail