Bausteine: Hansjörg Baldinger, Sie besuchen regelmässig im Auftrag der International Fellowship of Evangelical Students (IFES) Osteuropa und Russland. Welche transkulturellen Probleme treffen Sie dort an? Die Leute, mit denen ich in Kontakt stehe, sind vor allem Akademiker oder Studierende. Das ist ein beschränktes Segment aus den Gesellschaften Osteuropas. Aber immerhin sind es Menschen, die wach durchs Leben gehen und sich (und mir) Fragen stellen. Zunächst die Fragen des persönlichen Lebens, dann aber natürlich auch Fragen über die Lage und Zukunft der Welt. Viele Menschen auf der Strasse beschäftigen sich vor allem mit ihrem eigenen Überleben. Grundsätzlich gibt es in Russland zwei Meinungsgruppen: Diejenigen Menschen, die sich nach Westen orientieren und diejenigen, die sich (aus Abwehr) auf die eigene, russische, national-religiöse Kultur beschränken wollen. Es gibt eine grosse Offenheit dem westlichen Lebensstil gegenüber, aber auch eine deutliche bis vehemente Ablehnung. Diese Spaltung ist auch in der Identität des Einzelnen zu finden. Einerseits Faszination über den technologischen, materiellen Fortschritt des Westens, eine Sehnsucht, daran teilzuhaben, andererseits aber auch Nationalstolz, Betonung des Eigenen, Russischen, Slawischen. Welche Auswirkungen hat dies für Ihr Verhalten und Reden als Missionar? Dass ich über Jahre immer wieder an die einzelnen Orte komme, ihre Sprache, wenn auch mühsam (unter Zeitnot) erlerne, schafft Vertrauen. Ich teile mein Leben in den Tagen meines Besuchs mit ihnen, indem ich bei ihnen privat wohne. Ich versuche, meine Freunde, die manchmal bis zu 40 Jahre jünger sind als ich, zu ermutigen, vom Evangelium her und durch meinen Lebensstil. Für viele bin ich wie ein Vater. Sie nehmen wortlos das Mass an mir. Das verpflichtet mich, hier und drüben, so konsequent wie möglich das zu leben, was ich „predige“. Das gilt auch für öffentliche Vorträge. Das Evangelium schützt die Würde des Menschen über alle kulturellen Grenzen hinweg. Es erlaubt aufrichtige Achtung und gleichzeitig klare Herausforderung. Und in allem, was ich sage, bin ich zuerst Betroffener. Ich bin und bleibe ein buchstäblich begnadigter Sünder. Das ist integraler Bestandteil meiner Botschaft. Die Welt scheint angesichts von Medien und Wirtschaftskreisläufen zu einem Dorf zusammen zu rücken. Dies scheint aber für die Kulturen nicht zu gelten. Sie schilderten kürzlich „den Gedanken von der Welt als einem ‚global village’ als eine gefährliche Utopie“. Weshalb? Aber dennoch ist die Welt kein „global village“, wo man einträchtig zusammenlebt. Diese Vorstellung entspringt eindeutig westlichem Denken und westlichen Möglichkeiten. Nur die Reichen haben die Möglichkeit, in der Welt herumzureisen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Weltbevölkerung besitzt einen PC und hat damit Anschluss an Internet und Wissenstransfer. Die „global village“-Idee hat meiner Meinung nach deutlich utopische Züge. Utopien sind deshalb gefährlich, weil sie zwar faszinierende Visionen vor Augen malen, dabei aber die Alltagsrealität übersehen. Und gerade an dieser Alltagsrealität scheitern utopische Systeme in irgendeiner Form. Die Idee vom „global village“ geht davon aus, dass die Menschen in einer multikulturellen Gesellschaft in Frieden miteinander zusammenleben, dass der freie Markt Wohlstand für alle bringen wird (was aber in der Realiät nicht der Fall ist). Der Friede besteht nur solange, als die Betroffenen am materiellen Wohlergehen vorteilhaft beteiligt sind. Je freier der Markt, desto härter auch der Kampf ums Überleben. Können Sie sich keine multikulturelle Gesellschaft vorstellen? Multikulturalität wird in unserem politisch-wirtschaftlichen Denken zunehmend zu einem kategorischen Imperativ. Sie setzt aber den Willen aller Beteiligten zur Integration voraus. Und das ist eines der Probleme. Menschen wechseln ihre Identität nicht so leicht. Damit sind schmerzliche Prozesse verbunden, die längst nicht alle auf sich nehmen wollen oder können. Kulturelle Prägungen gehören zu den identitätsstiftenden Kräften im Leben eines Menschen und für ganze Völker. Wie gehen Sie als Botschafter des christlichen Glaubens mit den kulturellen Gräben um? In Westeuropa wird Korruption negativ beurteilt. In vielen Ländern der Welt wird sie aber als der Situation entsprechende legitime Überlebensstrategie verstanden. Wo Korruption Bestandteil einer Gesellschaft geworden ist, ist es fast unmöglich, sie mit bloss strukturellen Massnahmen zu überwinden. Es braucht auch die „mentale“ Veränderung des Individuums, weil Strukturen immer von Menschen „gefüllt“ werden. Initiative ergreifen, Verantwortung für sich und eine Gemeinschaft übernehmen lernen, erfordert ein Umdenken des Individuums. Dazu ist zeitintensive Kleinarbeit unumgänglich. Gerade da ist das Evangelium von Jesus Christus die „ultimative“ Botschaft für die Welt. Als Christen müssen wir aber darauf achten, die eigene kulturelle Prägung zu relativieren und sorgfältig zu unterscheiden, was kulturelle (und denominationelle!) Ausprägung unseres Christseins und was unaufgebbarer Teil des Evangeliums ist. Wie können wir zwischen kultureller Prägung und Werten des Evangeliums unterscheiden? Kann denn von einer Supermacht erwartet werden, dass sie nach biblischen Werten handelt? Eine Supermacht, die sich als Hüterin von Demokratisierung und Menschenrechten ausgibt, muss bestrebt sein, in allen Bereichen exemplarische Politik zu betreiben, sonst verkommen Anspruch und Legitimation zu purer Machtwillkür, die ihrerseits nur Bitterkeit und Wut in der restlichen Welt steigern. Terrorbekämpfung erfordert moralische Integrität. Dazu ein Beispiel: Der Islam ist eine holistische Religion, d.h. alle Lebensäusserungen in der westlichen Welt werden wegen der christlichen Wurzeln abendländischer Kultur mit dem Christentum in Verbindung gebracht. Wenn ein amerikanischer Präsident eine Sex-Affäre mit einer Praktikantin hat, dann ist das für Muslime typisch für den hurerischen Westen. Meiner Meinung nach hat Clintons Verhalten die Verwerflichkeit und Bekämpfungswürdigkeit der westlichen Welt gefördert. Er hat damit zum 11. September beigetragen. Abgesehen vom Wirtschaftsimperialismus der USA und Westeuropas wird die westliche Zivilisation in islamischen Ländern (teilweise auch in Russland / Osteuropa) als dekadent betrachtet. Westeuropa „importiert“ zum Beispiel pro Jahr ca. 120'000 (!!) Frauen und Kinder fürs Sexgewerbe und als Organspender. Solches weiss man in der Welt. Auf diesem Hintergrund betrachtet haben die USA und die EU ihren missionarischen Eifer für Demokratisierung und Menschenrechte zwar beibehalten, aber gleichzeitig mehr und mehr die moralische Autorität verloren. Da wäre v.a. Umdenken und Neuorientierung angebracht. Wer könnte denn echt nach biblischen Prinzipien handeln, wenn nicht eine Supermacht, die zurückschlagen kann? Der Starke kann am deutlichsten zeigen, was Gnade ist. Wenn er moralisch-ethisch stark ist, wird ihm das nicht als Schwäche ausgelegt. Das gilt doch auch für eine Supermacht. Was kann die christliche Kirche zur Überwindung kultureller Differenzen und Kommunikationsprobleme beitragen? Das Evangelium wird der menschlichen Natur gerecht wie nichts Anderes auf der Welt. Das Evangelium ist eine Kraft, die kulturunabhängig Veränderung im Individuum und in der Gesellschaft bewirkt und Hoffnung über den Tod hinaus gibt. Das Evangelium ist nicht kulturzerstörend, wie viele Ethnologen, Soziologen und Politologen immer wieder behaupten, sondern entfaltet eine kultur-heilende Wirkung. Das Evangelium ist nicht ein ideologisches System, sondern ist gebunden an eine heute noch lebendige, erfahrbare Person: Jesus Christus. Er ist alles in allem (Kolosser, Kapitel 1, Verse 15-20). Auf Jesus Christus ist echte Globalisierung („Reich Gottes“) fokussiert (Kolosser 1,15-20). In ihm ist die zeitlos (absolut) gültige Wahrheit und Kraft konzentriert, die auf Liebe und Barmherzigkeit gegründet ist. Jesus hat die zerstörerischen Mächte, die in der Welt aktiv sind, aufgedeckt und die Werte der Welt auf den Kopf gestellt, indem er sich als den Weg, die Wahrheit und das Leben proklamiert hat. Eine Herausforderung für nationalistische, religiös-fundamentalistische und postmodern-multikulturelle Gesellschaften. Für alle. Wie soll die Mission mit dieser Einsicht umgehen? In Anlehnung an Blaise Pascal kann man andererseits sagen, dass wer Jesus Christus nicht kennt, Gott nicht erkennt, die Welt letztlich nicht versteht und seine eigene Widersprüchlichkeit nicht begreift. Diese Botschaft transkulturell weiterzugeben, in aller Freiheit, ohne Manipulation, aber auch ohne Schmälerung von Angebot und Anspruch ist ein permanenter Lernprozess, in dem einzelne Botschafter und die Kirchen stehen müssen, um nicht selber in besten Absichten die Botschaft ideologisierend zu pervertieren. Da bleibt für Missionare, Kirchen und Werke noch vieles zu lernen.
Hansjörg Baldinger: Zunächst möchte ich sagen, dass meine Beobachtungen und Überlegungen subjektiv aus meiner persönlichen Wahrnehmung zu verstehen sind. Die Zeit wird weisen, ob sie zutreffend sind oder nicht. Weiter ist zu bemerken, dass Osteuropa kulturell eine grosse Vielfalt aufweist. Wenn ich Osteuropa sage, dann meine ich vor allem Russland, Weissrussland und die baltischen Staaten. Aber auch diese drei Gebiete sind sehr unterschiedlich zu beurteilen.
Ich versuche, meinen Partnern und Zuhörern mit Achtung zu begegnen, indem ich ihnen positive Seiten ihrer Kultur in Erinnerung rufe und sie auch auf die negativen Seiten unserer westeuropäischen Gesellschaft aufmerksam mache. Je länger ich diese Länder bereise und ihre Sprache langsam etwas verstehe, desto mehr kenne ich Land und Leute. Sie werden mir zum Spiegel für mich und meinen kulturellen Hintergrund. Da werden Licht und Schatten in ihrer und meiner Kultur immer deutlicher. Darüber kann und soll man ganz ehrlich reden. Sich selber nicht schlecht machen, andern nicht schmeicheln. Einfach ehrlich und transparent sein.
Die Vorstellung, die Welt als ein globales Dorf zu verstehen, ist ein faszinierender Gedanke. Durch die modernen Kommunikationsmittel und Billigflüge ist der Informations- und Menschentransfer gewaltig gesteigert worden. Die Distanzen sind leichter zu überwinden. In einem gewissen Sinne sind sich die Menschen einander näher gerückt, man weiss mehr voneinander. Aber die räumlichen Distanzen sind nicht kürzer geworden, sie sind heute nur leichter zu überwinden. Mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn in China SARS ausbricht, dann sind wir in Westeuropa sofort auch bedroht. Die wirtschaftlichen Verbindungen haben die Grenzen der Staaten und ihre Autorität stark eingeschränkt. Die Börsenmärkte stehen weltweit in enger gegenseitiger Abhängigkeit.
Multikulturalität entwickelt sich nicht einfach von selbst. Sie muss angestrebt werden. Viele Politologen und Soziologen verstehen den Menschen als Produkt der Geschichte und der Erziehung. Von daher müsste Neuorientierung möglich („konstruierbar“) sein. Sie ignorieren aber dabei die kultur- und epochenunabhängige Grundstruktur der menschlichen Natur, also das „Böse“ im Menschen.
Kultur als Wertesystem einer Gesellschaft verstanden, ist an sich nicht schon „unantastbar“. Kultur ist ein Spiegel des menschlichen Wesens: Sie enthält aufbauende, wertvolle, aber auch zerstörerische Komponenten. Sie ist deshalb relativ.
Unser Anliegen muss sein, den globalen Charakter des Evangeliums deutlich zu machen. Wir müssen die grundlegenden, kulturunabhängigen Inhalte des Evangeliums vermitteln. Das sind Freiheit, Liebe, Gnade, Annahme, Vergebung und Sorge für die Armen. Wie wäre die Weltlage heute, hätte die westliche Welt auf den 11. September nicht mit Kampfansage, sondern mit Busse und Gnade reagiert? Gerade aus der Position wirtschaftlicher und militärischer Stärke heraus? Ist der 11. September nicht zu einer verpassten Chance geworden?
Ja. Warum eigentlich nicht? Nach der Bibel gibt es nur eine Wahrheit, die für alle überall zu jeder Zeit gilt. Auch für eine Supermacht. Die Trennung zwischen individueller und nationaler Ethik kann sich unheilvoll auswirken. Es gibt im Alten Testament Beispiele dafür, dass Israel militärisch oder politisch absolut nicht nach menschlich-strategischen Massstäben gehandelt hat. Der Gott der Bibel ist nicht nur ein Gott der Individuen, sondern auch des ganzen Universums.
Gerade weil der Mensch in seiner Natur und seiner kulturellen Ausprägung ambivalent und damit widersprüchlich ist und weil die globalisierte Welt so komplex ist, braucht der Mensch, die Welt einen universalen (absoluten) Bezug. Etwas, das gestern, heute und morgen und überall gültig ist.
Sie muss sich bewusst sein, dass in diesem - im Kern kulturunabhängigen und zeitlos gültigen Angebot und Anspruch von Jesus alle Menschen und Kulturen gleich sind. Es geht darum, in aller Bescheidenheit Angebot und Anspruch in der jeweiligen Gesellschaft und Kultur zu „inkarnieren“. In aller Freiheit. Auch wenn Christen einen absoluten Bezug haben, sind sie in ihrer Wahrnehmung der Welt und Umsetzung der Botschaft nicht unfehlbar.
Datum: 18.10.2003
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG