«Unglaubliche Vielfalt von Impulsen»
Früher konnte man Jugendszenen mit klarem Profil unterscheiden (Häuserbesetzer, antikapitalistische Gruppen…), sagt Weisshaupt, Leiter der Fachstelle Kirche + Jugend der Stadtzürcher reformierten Kirchgemeinden, im Gespräch mit Livenet. «Heute zerfallen diese Szenen in kleine Grüppchen, die schwer zu identifizieren sind und sich in der Öffentlichkeit kaum mehr bemerkbar machen.» Man vereinbare mit Kollegen über Facebook oder SMS ein Camping-Weekend, das nächste Wochenende schliesse man sich einer anderen Clique an. In Weisshaupts Wahrnehmung sind die meisten Jugendlichen sehr angepasst, nicht mehr aufmüpfig. Statt mit einer eigenen Vision die Gesellschaft umgestalten zu wollen, werden sie durch Konsumangebote vereinnahmt.
Reizflut
Zu Hause läuft der PC mit Facebook und MMS, ständig wird das Handy beobachtet, man hört Musik oder liest etwas: «Ich sehe eine unglaubliche Vielfalt von Impulsen, die die Jungen aufnehmen wollen – da kommt die Seele nicht mit.» Jörg Weisshaupt zitiert einen Artikel des Tages-Anzeigers: «Multitasking vermanscht das Gehirn». Die gewollte Reizflut überfordert. «Was früher in zehn Jahren ablief, erleben Jugendliche heute in fünf oder zwei Jahren.» Die Konsumgesellschaft suggeriert ihnen, sie seien erwachsen. Allerdings erliegen sie den Verlockungen der Anbieter nicht einfach – Cliquen gehen abends an den See, grillieren spontan am Waldrand, kippen Bier, chillen…
Vorbilder
Wo machen Heranwachsende prägende Erlebnisse? Kaum mehr in intensiven Gruppenaktivitäten oder Erlebnisreisen, eher an Fussballmatches oder Festivals, mitten in zehntausend andern. Sie sind laut Weisshaupt weniger abhängig von Institutionen – «die Frage ist, welche Vorbilder sie haben».
Smarte Selbstdarsteller
Nicht nur die Kirche, auch Vereine und politische Parteien binden Jugendliche nicht mehr wie früher an. «Sie eröffnen ein Konto bei der Kantonalbank, weil damit der Nachtbus nicht zusätzlich kostet, und zugleich eines bei der UBS, weil sie davon landesweit gratis abheben können.» Behalten Jugendliche den Überblick? Angesichts der Schulden, in die viele sich stürzen, zweifelt Weisshaupt an ihrer Fähigkeit, Mass zu halten.
Die Kommunikationsplattformen ermöglichen Teilnehmern, sich zu präsentieren. Die Street Parade fördert die Selbstdarstellung auf ihre Weise. «Man will nicht Anteil nehmen am andern, sondern sich selbst darstellen. Die Street Parade ist sehr narzisstisch: Es geht nicht darum, sich für den Frieden oder die Liebe einzusetzen. Man stellt seinen Körper oder ein gewagtes Kostüm zur Schau.»
Gesundes Selbstbewusstsein
Wo sieht Weisshaupt in diesen Szenen die reformierte Kirche? Sie schaffe es meist nicht, die Sprache der Jugendlichen zu sprechen und in diesem Medium die Gute Nachricht von Jesus auszudrücken. Der Leiter der Fachstelle Kirche + Jugend entwickelt Angebote für Zielgruppen. Die «Nacht der Lichter» (am 5. November in Winterthur, am 6. November in Zürich) zieht bei Jugendlichen, die eine ruhige Spiritualität suchen. «Entscheidend ist der persönliche Kontakt, die Beziehung.» Andere Jugendbeauftragte beneiden die Kirchen um die Möglichkeit der Seelsorge: dass sich Erwachsene intensiv um Junge kümmern und sie über Jahre begleiten. Was nur geht, wenn der Jugendarbeiter die Stelle nicht nach kurzem verlässt…
Junge Menschen sind über die Konfirmation hinaus zu schulen, fordert Weisshaupt. Ihre Fähigkeiten müssten gefördert werden, damit sie Selbstsicherheit gewinnen und sich ein Engagement zutrauen. Die reformierten Kirchen forderten Professionalität, führten aber Junge zu wenig an das gewünschte Niveau heran, was das Engagement hemme. Die Zürcher Landeskirche hat im Kursprogramm Pace niederschwellige Angebote für Junge, die sich schulen lassen wollen. Weisshaupt plädiert dafür, es auszubauen. «Dann merken Jugendliche: Ich werde nicht ausgesaugt, sondern ernst genommen.»
Datum: 14.08.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch