Wenig gegenseitiges Verständnis zwischen Ost- und Westchristen

Prof. Barbara Hallensleben
Zwei russische Christinnen bezeugten in Wort und Gesang ihren Glauben.

Viele Christen in Russland haben noch nie einen westlichen Christen beten gesehen. Umgekehrt wissen viele westliche Christen kaum etwas über das Selbstverständnis von Christen im orthodoxen Raum. Für mehr gegenseitiges Verständnis setzte sich eine Tagung der VBG in Bern ein.

Hansjörg Baldinger, Leiter des Fachkreises „LINK“ der VBG, hatte dazu eine ausgewiesene Kennerin nach Bern eingeladen: Barbara Hallensleben, ordentliche Professorin für Ökumene und Dogmatik an der Universität Fribourg. Sie reiste gleich mit drei orthodoxen Studenten an, die ihre Ausführungen ergänzten.

Tatsache ist, dass heute vor allem zwischen protestantischen und orthodoxen Kirchen Eiszeit herrscht. Nach einer Phase des Aufbruchs nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 und dem Beitritt der Ostkirchen zum Weltkirchenrat herrschte Optimismus. Man leitete einen „Dialog der Liebe“ zwischen den so unterschiedlichen Kirchen ein, dem später ein „Dialog der Wahrheit“ folgte.
Doch ausgerechnet der Zusamenbruch der Sowjetunion und das Aufbrechen des Eisernen Vorhangs brachte eine massive Verschlechterung des Verhältnisses. Der Konflikt zwischen Orthodoxen und Protestanten entzündete sich vor allem an Fragen wie der Integration der Homosexuellen und der Frauenordination. Seither herrscht Eiszeit.

Orthodoxie – Ostgrenze zu Europa?

Daran sei nicht nur der Osten schuld, betone Hallensleben. Sie verwies auf Samuel Huntingtons These, Europa höre dort auf, wo die Orthodoxie anfange. Diese Haltung müsse überwunden werden. Der Westen fühle sich „ökumenisch“ und damit im Recht. Dieses Urteil sei von unserer Arroganz und Ignoranz geprägt und zeuge von einer unökumenischen Haltung.

Das Wissensdefizit über die Situation der andern sei gegenseitig, ist Hallensleben überzeugt. Der Begriff ökumenisch sei aber im Osten negativ besetzt. Der in Freiburg studierende Theologe Augustin Sokolovski bestätigte dies und führte das auf den Missbrauch der Ökumene durch die kommunistischen Machthaber zurück, welche die Russisch-orthodoxe Kirche angewiesen hätten, sich im Dienst der Ideologie im Weltkirchenrat gegen Kapitalismus und Imperialismus zu engagieren. Mit Ökumene verbänden deshalb viele eine Verweltlichung der christlichen Werte. Sein Kollege Sergej Eliseev führte das Problem auch auf einen schlechten Informationsstand des Ostens über den Westen zurück.

Nachhaltig gestört

Die Kommunisten hätten es nicht geschafft, das kirchliche Leben abzuwürgen, so Hallensleben. Allerdings sei es ihnen gelungen, die Einheit der östlichen Kirchen aber auch der Ostkirchen mit dem Westen, nachhaltig zu stören. Im Osten habe man 70 Jahre nichts über die Entwicklung der Kirchen im Westen gewusst. „Nun stehen wir vor einer grossen Arbeit, wenn wir dieses Wissen aufholen wollen.“

Es gelte, die östlichen Kirchen zu verstehen, die nach 70 Jahren harter Verfolgung und Millionen von Märtyrern wieder auferstanden seien, betonte die Referentin. Aus dem Blut der Märtyrer sei die Saat aufgegangen. Doch viele westliche Schwesterkirchen hätten daran kein Interesse und fänden, diese Kirche müsse missioniert werden. Ihre Missionare hätten ohne Liebe und Einfühlungsvermögen gearbeitet und viele Wunden hinterlassen.

Angst, wenn auch unbegründet

Hallensleben führte die Angst orthodoxer Christen gegenüber dem Westen darauf zurück, dass die meisten noch keine Westchristen gesehen hätten, die wirklich glauben und beten. „Hier müssen wir Stellvertretung in der Kirche wahrnehmen, denn die vergangenen Jahre waren Jahre vieler verpasster Chancen.“

Sie mahnte die westlichen Kirchen, den Ostkirchen auch Zeit zu lassen und sie nicht mit ihrer „strukturelle Ungeduld“ zu überfahren. Ausserdem müsse eine Kultur der Versöhnung aufgebaut werden: „Es muss möglich sein, immer wieder die Versöhnung zu suchen, nochmals den nächsten Schritt zu tun, auch wenn wir zurückgewiesen werden.“

Website von LINK - der Arbeit der VBG mit Studierenden in Osteuropa: www.evbg.ch

Datum: 01.12.2004
Autor: Fritz Imhof
Quelle: VBG

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