Kirche ist mehr als attraktive Angebote
Momentan finden wir nicht mehr genügend Leute für den pastoralen Dienst. Dies betrifft zahlreiche Kirchen und die Gründe dafür sind vielfältig:
- Demographische Aspekte: In der Schweiz ist die Zahl der Menschen, die jährlich in Pension gehen, deutlich höher als diejenige derer, die ins Berufsleben einsteigen. Das ist auch Hauptgrund des Fach- und Arbeitskräftemangels in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Konkret steigen auf 3‘000 Leute, die pensioniert werden, nur 2‘000 Leute ins Berufsleben ein.
- Das Prestige ändert sich: Ein Mann, der vor mehr als 40 Jahren auf St. Chrischona studierte und dann als Pfarrer EGW einstieg, sagte mir kürzlich, dieser Schritt habe für ihn einen sozialen Aufstieg bedeutet. Diese Zeiten der besonderen gesellschaftlichen Anerkennung von Pfarrleuten sind vorbei.
- Die Ansprüche der Gemeinde ändern sich: Das Gemeindeleben ist vielfältiger und attraktiver, aber auch aufwändiger geworden. Kann der Zusatzaufwand nicht durch Freiwillige abgedeckt werden, muss die Pfarrperson in die Bresche springen, ob sie nun Zeit und entsprechende Begabung dazu hat oder nicht. Andere Aufgaben kommen dann entweder zu kurz oder die Pfarrperson unter Druck.
- Die Vorstellung jüngerer Generationen ändert sich: Die Gemeindeangebote werden vielfältiger und Angestellte müssen ständig in die Bresche springen. Das entspricht nicht deren Vorstellung des Pfarrberufs. Jüngere Menschen wagen es eher, nein zu sagen. Wenn also von ihnen Sachen gefordert werden, die nicht ihren Gaben entsprechen oder ihre Belastungsgrenze übersteigen, erwarten sie Verständnis und Entlastung. Das wiederum steht im Widerspruch zu den Erwartungen der Gemeinde.
Diese Analyse kann ohne Zweifel noch ergänzt, erweitert und vertieft werden. Ich möchte mich jetzt aber möglichen Lösungsansätzen zuwenden und dabei einfach ein wichtiges Thema kurz umreissen: die Frage der Berufung. Für die meisten ist klar: Beim Entscheid, einen pastoralen Dienst zu übernehmen, ist die Berufungsfrage zentral. Allerdings beschränken sich Berufungen nicht auf diesen Bereich. Deshalb möchte ich im Folgenden neben dem Ruf zur Pfarrerin, respektive zum Pfarrer auch zwei weitere Berufungsfelder kurz ausführen.
Die Berufung, Pfarrerin oder Pfarrer zu werden
Im freikirchlichen Bereich wird kaum jemand aus finanziellen Gründen den Pfarrberuf wählen. Und wie erwähnt, verspricht er auch keinen sozialen Aufstieg mehr. Umso wichtiger wird die Berufungsfrage.
Viele junge Leute wollen ihre Berufung leben und dabei sollten wir sie nicht allein lassen. Gerade Pfarrerinnen und Pfarrer können im Blick auf eine pastorale Berufung junger Menschen eine zentrale Rolle einnehmen. Sie kennen den Beruf mit seinen Vorzügen und Herausforderungen. Sie wissen, was es bedeutet, ihn im Alltag zu leben. Von einer inspirierenden Pfarrperson angesprochen und auf eine mögliche Berufung hingewiesen zu werden, kann bei jungen Menschen viel bewirken. Der Entscheid liegt bei der betroffenen Person, aber der Ruf kommt von Gott und die Begleitung geschieht durch Menschen, die den Jungen zur Seite stehen.
Die persönliche Berufung jedes Christen
Aber nicht nur Pfarrpersonen sollen Berufene sein, sondern alle. Vorliegender Text ist keine Anleitung, wie man seine Berufung findet. Vielmehr möchte ich ermutigen, die Frage unserer persönlichen Berufung in den verschiedensten Lebensbereichen zu stellen. Ich glaube, dass wir vieles nicht aufgrund unserer Berufung, sondern aus anderen Motiven tun. Hierzu ein provokatives, aber zentrales Beispiel: die Frage nach der Gemeinde, zu der ich gehöre.
Als Pfarrer stelle ich fest, dass die Hauptkriterien für die Gemeindewahl bei vielen Christen die eigenen Bedürfnisse sind: Gefällt mir die Musik und der Lobpreis? Wie gut sind die Predigten? Haben meine Kinder tolle Angebote und werden sie im Glauben gefördert? Treffe ich Leute, mit denen ich gerne zusammen bin? Diese Kriterien haben nichts mit meiner Berufung zu tun. Wie wäre es, wenn wir fragen würden: Wo möchte Gott mich haben? Wo ist der Platz, an dem ich meine Berufung leben kann und soll? Könnte es sein, dass wir mehr auf unsere vermeintlichen Bedürfnisse als auf Gottes Ruf hören? Ich glaube, ja! Und das hat negative Konsequenzen auf den dritten Berufungsbereich.
Die Berufung der Gemeinde
Wenn Menschen die Gemeinde nach deren Attraktivität wählen, ist diese versucht, den Fokus auf genau diese Attraktivität zu legen. Wenn viele Menschen ihre Gottesdienste besuchen und an ihren Angeboten teilnehmen, denkt die Gemeinde, sie sei besonders gesegnet und jetzt wachse das Reich Gottes. Als ob Gottes Reich vor allem darin bestehen würde, dass viele so feiern, wie wir gerne feiern! Wenn ich das so konkret schreibe, tönt das vielleicht überzeichnet und trivial. Ich vermute aber, dass dies oft die Realität ist.
Und für dieses Denken bezahlen wir einen hohen Preis. Die Attraktivitätssteigerung unserer Angebote ist meistens mit höherem Aufwand verbunden. Wie viele Aufrufe machen wir, um genügend Leute zu finden, die unseren «Betrieb» am Laufen halten? Auch hier sollten wir die Berufungsfrage für uns als Ortsgemeinde stellen. Möchte Gott wirklich, dass wir mit anderen Kirchen in eine Art Wettstreit der Attraktivität unserer Angebote geraten? Oder möchte er, dass wir mehr alte Leute besuchen? Uns um Asylsuchende des nahe gelegenen Asylzentrums kümmern? Menschen ermutigen, sich in der Politik und im Verein zu engagieren und bei uns einfach auftanken zu kommen?
Nicht jede Gemeinde hat dieselbe Berufung. Wie wäre es, wenn wir unsere suchen? Vielleicht würden unsere Gemeinden dadurch neue Formen annehmen und vielleicht würde dieses Gemeindeleben den Druck junger Menschen, die sich überlegen, Pastor zu werden, mindern. Sie müssten dann nicht verantwortlich sein für die Attraktivität der Angebote, sondern könnten der Gemeinde helfen, ihre Berufung zu leben. Das tun zu dürfen, ist die grösste Erfüllung, die sich Pfarrerinnen und Pfarrer für ihren Beruf vorstellen können.
Lesen Sie hier die ungekürzte Originalversion des Artikels.
Zum Thema:
Lösungsansätze diskutiert: Was tun gegen den Pastorenmangel?
tsc-Rektor Benedikt Walker: Wie sich der Pastorenmangel lösen lässt
Talk mit langjährigem Pastor: Über die erste und wichtigste Berufung
Datum: 03.05.2025
Autor:
Pfr. Daniel Ritter/ gekürzt durch Livenet
Quelle:
Evangelisches Gemeinschaftswerk