Entlassene Sexualstraftäter aufnehmen?
Im Gefängnis wurde Craig (Name geändert) von einem Geistlichen gefragt, ob er Christus als seinen Retter annehmen wolle. Er fragte zurück, ob Christus ihn annehmen würde. Craig sass ein, weil er seine eigene Tochter und ein anderes Mädchen sexuell missbraucht hatte. «Eine von Gottes grössten Gaben ist die Unschuld eines Kindes. Ich lebe mit dem Wissen, dass ich sie bei diesen beiden Mädchen zerstörte.» In Haft durchlief Craig eine Gruppentherapie. Nach der Freilassung hat er eine Gemeinde gefunden, die ihm hilft, das hinter sich zu lassen, was er «Sucht auf Lust» nennt.
Im Dilemma
Christliche Gemeinden stehen bei Sexualstraftätern vor einem Dilemma: Die Sicherheit von Minderjährigen darf nicht aufs Spiel gesetzt werden und das vertrauensvolle Miteinander von Erwachsenen und Kindern soll nicht leiden, wenn Tätern Wiederherstellung und Gemeinschaft angeboten wird. Nach einer Umfrage verweisen die Gemeinden zur Hälfte Täter und Sexsüchtige an Fachstellen, ein Viertel unternimmt nichts, ein Viertel bietet Hilfe an, hälftig mit Verweis an Fachstellen.
Ja, aber…
Die Umfrage wurde im Frühjahr 2010 von Christianity Today International (CTI) bei 2864 US-Christen durchgeführt; von ihnen waren 15% ordinierte Leiter, 20% Angestellte und 43% Gemeindeglieder. Auf die Frage, ob verurteilte Sexualstraftäter nach ihrer Freilassung in eine Gemeinde gehören, anworteten 79% mit Ja – als Besucher, mit Auflagen und unter Aufsicht. Von solchen Vorsichtsmassnahmen absehen wollen nur 5%. Jeder vierte Befragte fand, die Aufnahme solle verweigert werden, wenn Opfer des Täters in der Gemeinde sind. Ein Fünftel meinte, Entlassene sollten auch Mitglied der Gemeinde werden können. 4% können sich jemand mit dieser Vergangenheit als Leiter vorstellen.
Einschränkungen
Anderseits vermuten fast zwei von drei Befragten, dass Sexualstraftäter nicht so rehabilitiert werden können, dass sie gar keine Gefahr mehr darstellen. Doch plädiert Ian Thomsen, Administrator der Arvada Covenant Church im Bundesstaat Colorado, dafür, dass Gemeinden Sextäter aufnehmen. Ihr Leben zum Besseren zu wenden, sei eine grosse, riskante Herausforderung – aber eine «wunderbare Herausforderung». Mark Tusken, Leiter der St. Markuskirche in Geneva (Illinois), fragte beim Amtsantritt nach Leichen im Keller und begann dann den Mann, von dem man ihm eine Sexualstraftat meldete, monatlich zu treffen. Nach einem Jahr erzählte dieser dem Pastor von sich aus, was er getan hatte. Der Mann hat akzeptiert, dass die Kirche ihn nie mit einem Kind allein lässt. Für die meisten von CTI Befragten ist Reue wesentlich: Täter ohne Reue wollen fünf von sechs nicht in ihrer Gemeinde.
Leichtgläubige Christen
Zugleich sind sich Kirchenverantwortliche bewusst, dass Sexualstraftäter notorisch gute Lügner sind. Christen sind als leichtgläubig bekannt. Zu lange hätten Verantwortliche Vertrauen haben wollen und zu wenig auf guten Grenzen und vorbildlichem präventivem Verhalten bestanden, schreibt Marian V. Liautaud im Internetdienst von «Christianity Today» zu den Ergebnissen der Umfrage. Doch dies hält Pastoren wie Tusken nicht davon ab, an die erneuernde Kraft von Jesus zu glauben, der sich als das Licht der Welt bezeichnete. «Ich will, dass sein Licht in die Dunkelheit des Herzens des Täters hineinscheint und in die Herzen der Missbrauchten.»
Zusammenarbeit
Die Woodside Bible Church in Michigan schliesst mit Straftätern eine verbindliche Vereinbarung ab, die vom Vergehen und dem Fortschritt seit der Verurteilung abhängt. Erfahrene Fachleute in der Megachurch geben ihre Einschätzung des Mannes – und ohne volle Bereitschaft zur Zusammenarbeit geht nichts. Woodside gibt die Einschränkungen vor. Die Gemeinde in Arvada war in der Frage gespalten, ob Strafentlassene in der Gemeinschaft ständig beaufsichtigt werden müssen; schliesslich wurden Bedingungen festgelegt.
Dass gemäss der Umfrage nur jede vierte Gemeinde selbst mit Sexualtätern arbeitet, hat mit dem Aufwand für Betreuung und Begleitung zu tun. Es brauche eine kritische Masse von Gemeindegliedern, die daran interessiert sei, sagt ein erfahrener Pastor – und diese sei in kleinen Gemeinden nicht gegeben.
Jede Woche Austausch
Das Mennonite Central Committee in Kanada begann 1994, Betreuungsgruppen für Strafentlassene aufzubauen. 2007 beschloss Kalifornien, das sogenannte COSA-Programm zu übernehmen. Der Staat hat etwa 100'000 Sexualstraftäter registriert. Jede COSA-Gruppe besteht aus einem «Kernmitglied» und einer Handvoll «Kreismitgliedern», die sich mit ihm wöchentlich treffen und Höhen und Tiefen des Alltags besprechen. Einige Gruppen gehen über Jahre. Alles beginnt damit, dass die Kreismitglieder die Geschichte im Detail erfahren. «Wenn Sie nicht wissen, wer sie sind, können Sie ihnen nicht helfen, anhaltend über ihre Lebensweise Rechenschaft zu geben, oder Sie machen es ihnen unabsichtlich leichter, ihre Verpflichtung nicht einzuhalten», sagt Clare Anna Ruth-Heffelbower, die kanadische Mennonitenpastorin, die COSA entwickelte.
Zum Thema:
Die CTI-Umfrage
und Folgerungen
Das COSA-Programm in Fresno, CA
PBS-Bericht über COSA
Datum: 24.09.2010
Autor: Peter Schmid