Ernüchtert hoffen und voneinander lernen
Um reformierte Kirche auf nationaler Ebene eindeutiger zu leben, gehen die Mitgliedkirchen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK an eine Revision seiner Verfassung von 1950. Diese hält fest, dass der Bund zur «Wahrung, Stärkung und Ausbreitung des evangelischen Glaubens in der Schweiz» und zur «Zusammenfassung aller protestantischen Kräfte» dienen soll.
«Viele riesige Herausforderungen»
Die Verfassungsrevision soll realistisch und mit Weitblick geschehen, denn «ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel hat die Situation der reformierten Kirchen dramatisch verändert und zu einer Vielzahl riesiger Herausforderungen geführt». Dies schreiben der Lausanner Religionssoziologe Prof. Jörg Stolz und seine Assistentin Edmée Ballif.
Die beiden haben für den Rat des SEK eine Analyse erstellt, die unter dem Titel «Die Zukunft der Reformierten» im Theologischen Verlag Zürich veröffentlicht worden ist. Der Rat will die 200-seitige Studie als Grundlage für einen «Prospektivbericht» an die Abgeordneten der Mitgliedkirchen nutzen. Dieser soll aufzeigen, wie der SEK weiter zu entwickeln und seine Verfassung zu revidieren wäre. Denn was der Kirchenbund soll, ist unter den reformierten Kirchen umstritten.
Unabweisbare Megatrends
Die Verfasser, Direktor und Mitarbeiterin des «Observatoire des Religions en Suisse» in Lausanne, behandeln acht für die Reformierten relevante Megatrends: 1. Entflechtung gesellschaftlicher Teilsysteme von Religion (Säkularisierung), 2. Individualisierung, 3. neue Lebensformen und «Lebensstil-Milieus», 4. Wertewandel, 5. Aufschwung säkularer Konkurrenten von Kirchen, 6. religiöse Pluralisierung und Zunahme der Konfessionslosen sowie 7. Informationsgesellschaft und neue Technologien. Die «Wiederkehr» der Religion, als achter Megatrend aufgeführt, wird von den Autoren auf den Medienhype angesichts des Aufkommens des Islam in Europa reduziert.
Sich selbst zu Markte tragen
Zum Megatrend Individualisierung heisst es, die traditionellen reformierten und katholischen Milieus der Schweiz hätten sich aufgelöst, an ihre Stelle seien «Lebensstil-Milieus» getreten. So ist der Einzelne nicht mehr durch Herkunft festgelegt, sondern hat die Wahl. «Der Markt und die Konkurrenz weiten sich auf immer mehr Lebensbereiche und auf immer mehr Personengruppen aus… Der Mensch wird (sich) selbst zum Produkt… er handelt mit seinen Fähigkeiten und Eigenschaften, er wird abhängig vom ‚Markt‘.» Wohlstand bedeute Freiheit – und der Wohlfahrtsstaat befördere den Eindruck, dass man die Kirche nicht mehr brauche, schreiben Stolz und Ballif. So dass die Menschen zunehmend aus Angeboten wählen, sich auch selbst als «Angebot» sehen – und sich von der Kirche nicht mehr sagen lassen, was sie zu glauben haben.
Kirchen reagieren
Die sozialwissenschaftliche Studie bleibt nicht bei den insgesamt bedrohlichen Megatrends stehen. Die Autoren führen auf, wie Kantonalkirchen auf den gesellschaftlichen Wandel reagieren, und geben Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Sie haben Dokumente von 14 Kirchen gesichtet und mit 53 führenden Reformierten und Fachleuten vertiefende Interviews geführt. Ausdrückliches Lob erhält der Visitationsbericht des St. Galler Kirchenrats von 2007, der Stärken, Chancen, Schwächen und Bedrohungen der Kirche nennt und aufeinander bezieht (SWOT-Analyse).
Voneinander lernen
Als Fazit halten Stolz und Ballif zwar fest, dass die reformierten Kirchen «in den nächsten Jahrzehnten kleiner, (im Durchschnitt) älter und ärmer sein werden». Aber viele von ihnen hätten auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert und «eine grosse Anzahl erfolgsversprechender Strategien schon in Angriff genommen». Die Studie mündet in die Empfehlung, dass die Kirchen im SEK voneinander lernen, solche Strategien übernehmen und sich national besser abstimmen. Der SEK soll zur Plattform für den Wissenstransfer werden.
SEK als Relais, nicht als Zentrale
Der Hoffnung, die Schwierigkeiten des SEK mit der geplanten Verfassungsrevision – und mehr Kompetenzen für den Bund – zu beheben, bringen die Autoren Skepsis entgegen. Wenn der SEK über geringen Einfluss und mangelnde Anerkennung klage, sei das vor allem ein Kommunikationsproblem. «Der Aufbau einer wachsenden Gemeinsamkeit der Mitgliedkirchen sollte vom SEK in möglichst interaktiver, dienstleistungsorientierter und vernetzter Art geschehen. Alles, was der SEK tut, sollte den Mitgliedkirchen in ganz offensichtlicher Weise nützen», schreiben Stolz und Ballif. Eine «Reformierte Kirche Schweiz» brauche es dazu nicht.
Jörg Stolz, Edmée Ballif: Die Zukunft der Reformierten
TVZ Zürich, 2010
218 Seiten Paperback, Fr. 38.-
ISBN 978-3-290-17556-6
Datum: 20.08.2010
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch