An der Schwelle zum Jenseits
Der Abschied von meiner Mam führte mich in ein finsteres Tal, wie Psalm 23 es beschreibt. Ein Tal, in dem jeder Schritt schwerer wird und doch etwas sichtbar wird, das man ohne Dunkelheit nie entdeckt: die leise, aber sichere Führung des Guten Hirten. Ich sah, wie ihre Kräfte schwanden, wie ihr Körper zerbrechlicher wurde – und gerade in dieser Zerbrechlichkeit begann etwas zu wachsen: eine Klarheit, tiefer als alles, was wir je zuvor miteinander geteilt hatten.
Die tiefen, klaren und weisen Gespräche geschahen in ihren letzten Tagen. Dort, wo der definitive Abschied unmittelbar bevorstand, fiel alles Nebensächliche weg. Ihr klar ausgesprochenes, alles Umfassendes «Ja» zu Gott und zum Heimgehen löste ihre Seele und schenkte ihr eine tiefe innere Freiheit. Dinge, die früher Raum einnahmen, wurden unwichtig. Übrig blieb das Wesentliche: Frieden. Glaube, der trägt und Hoffnung schenkt. Liebe. Und eine bemerkenswerte Klarheit, die wie ein stilles Licht in ihr aufging.
Der Himmel wurde für sie immer bedeutender, das Irdische immer kleiner. Aus dieser Haltung entstanden Worte, die wirken, als kämen sie direkt aus der Nähe des Guten Hirten – gesammelt, gelassen, durchdrungen von Wahrheit und Weisheit. Worte, die leichter wurden, weil sie auf das konzentriert waren, was trägt. Sie sprachen in mein Herz wie das sanfte «Er führt mich auf rechter Strasse».
Strahlen am Ende des Lebens
Niemand, der ihren Frieden erlebte, konnte ihn übersehen. Eine Pflegefachfrau sagte: «Sie strahlen so tiefenentspannt, wie ich das noch nie erlebt habe.» Mam antwortete ruhig mit ihrem Glauben an Jesus. Dieses Strahlen war für mich wie Stecken und Stab – nicht Schutz vor dem Tal, sondern Trost mitten hindurch.
Für mich glich diese Zeit dem frischen Wasser, zu dem der Hirte führt. Inmitten des Sterbeprozesses, dem reissenden Schmerz des Loslassens und dem Tal der Tränen, erlebte ich eine Ruhe, so widersprüchlich es klingen mag. Immer wieder kam mir das Lied «The King is in the Room» in den Sinn. Als wir es an jenem Sonntag im ICF Bern sangen – genau an jenem ersten Wochenende, an dem Mam auf der Palliativstation lag – wusste ich: Das war keine zufällige Berührung. Das ist Fürsorge. Der Hirte ist da.
Ein bleibendes Geschenk
Kurz bevor meine Mam starb, hinterliess sie mir ein bleibendes Geschenk: «Das Berühren, das gemeinsame Reden – das wird mit der Zeit keine Rolle mehr spielen. Man sieht und spürt die Werte, die vorher da waren. Das Schöne wird noch viel grösser und kostbarer. Man denkt: Was für ein riesengrosses Geschenk habe ich da gehabt.»
«Diese Worte werden nach und nach in dir wirken. Sie werden Dinge zur Entfaltung bringen, an die du jetzt noch gar nicht denken oder sie begreifen kannst. Man trägt die positiven Werte in sich weiter – alles, was der vorausgegangene Mensch gelehrt hat. Die gemeinsamen Erlebnisse leben im Herzen weiter.»
Liebe, die bleibt
Was bleibt, ist Dankbarkeit, Frieden, der Glaube, der trägt, und der tröstende Gedanke, dass es ihr jetzt gut geht – an dem Ort, an den sie gegangen ist. Diesem Gefühl kann man nicht entfliehen. Man spürt die Liebe noch intensiver als damals, als sie noch greifbar war. Es ist, als ob sich die Liebe vertieft hätte – still, aber spürbar. Das ist dann eben die Liebe – sie erlischt nie.
So wie es in der Bibel heisst: «Die Liebe hört niemals auf.» (1. Korinther Kapitel 13, Vers 8) und «Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben uns scheiden kann von der Liebe Gottes.» (Römer Kapitel 8, Verse 38–39)
Oder wie Dietrich Bonhoeffer sagte: «Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in stille Freude. Man trägt das verborgene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.»
Dieses Geschenk trage ich jetzt in mir. Es ist kein Gewicht, sondern Licht. Wer an der Schwelle des Lebens steht, erlebt oft eine Intensität jenseits des Alltags – Reifung und Präsenz, die mehr bewirken als Jahre zuvor. Der Hirte führt auf grüne Auen, manchmal mitten durch das Tal. Frieden ist Wirklichkeit, Abschied ist Übergang – und die Liebe bleibt, leise, beständig und tragend.
Zum Thema:
Dossier: Vom Hirten und seinen Schafen
Datum: 16.12.2025
Autor:
Markus Hänni
Quelle:
Livenet