Des Sängers Höflichkeit mag darüber nicht schweigen: Wer in Zürich durch die Bahnhofhalle ging, konnte sich dem Bannkreis der Stollen-Titanen kaum entziehen. Die lokalen Veranstalter warfen für die Infrastruktur ohne Kosten-Nutzen-Rechnung Millionen auf und schluckten die Auflagen der UEFA und ihrer Sponsoren. Nachdem die Panini-Drucker die Stimmung über Monate angeheizt hatten, drehte sich nun das öffentliche Leben flaggenfroh-hemmungslos um das Mega-Ereignis. Bern kleidete sich orange. Die Wade des Superballers dominierte die Tagesschau; die Stimmungsschwankungen im Team waren den Medien mehr Wert als die Hungernden der Welt. Das Halbfinale gegen die Türkei sahen in Deutschland geschätzte 29,5 Millionen; bloss einer von fünf Zuschauern im Land hatte in diesen Stunden nationaler Bewährung einen anderen Kanal eingeschaltet. Den VIPs stahlen die Super-VIPs, gekrönte Häupter und Regierungschefs, die Show – am Wiener Finalabend war die Mehrheit der Schweizer Landesregierung vertreten, Pascal Couchepin an der Seite von Angela Merkel. Die grossen Kirchen in Österreich und der Schweiz sowie Teams der Schweizerischen Evangelischen Allianz (Kickoff 2008) markierten Präsenz (diakonisch, abseits der Kameras), versuchten den christlichen Glauben ins Spiel zu bringen und dem Event etwas Geistliches abzugewinnen (vgl. Link unten). In seiner Bilanz sagte der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn, Sport und Glaube hätten viel miteinander zu tun: "Die Hoffnung und der Kampf um den Sieg, der faire Wettstreit und das Zusammenspiel im Team. Das sind alles Tugenden und Haltungen, die auch für den Glauben wichtig sind". Angesichts der national-emotionalen Verwerfungen darf man dem Himmel Dank dafür sagen (oder einfach mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen), dass schliesslich das beste Team die Euro 08 gewann, das Ensemble, welches alle andern ballkünstlerisch und taktisch überragte und mit seinem torgerichteten Spielwitz begeisterte. Dass die spanische Nationalmannschaft über Jahrzehnte nicht zum Erfolg gekommen war, hat mit der Zerrissenheit des Landes, der Härte seiner Regionalismen zu tun. Nun schaffte der Senior unter den Trainern mit jungen Supertalenten die Sensation: Er fügte sie zu einem Team, in dem jeder für den anderen kämpfte und sein Bestes gab. Im Penalty-Duell, das die abgebrühten Azzurri erzwangen, benötigten die Iberer etwas Glück; sonst spielten sie ihre Gegner schwindlig. Eviva España! Dieses spanische Wunder überstrahlte alles andere – es dürfte und sollte Menschen in ganz Europa inspirieren. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass Veranstalter, Sponsoren und Medien solche Gelegenheiten ergreifen, die Identifikationsbereitschaft von Gesellschaften (Völkern?) mit ihrer Mannschaft zu testen und damit zu spielen. Bei allem Lärm etwa um den «Imperatör» Fatih Terim war’s ein friedlicher Wettstreit um das runde Leder – im Unterschied zu dem mit Metallkugeln und Granaten, der sich vor 70 Jahren im Herzen Europas anbahnte. Identifikation mit den triumphierenden oder unterliegenden Stars, Zusammengehörigkeit auf Zeit, spielerisch, emotional und oberflächlich: das sportbegeisterte Europa scheint sie zu lieben. Hier zeigt sich eine religiöse Dimension: Der einst vom Vorbild des Christus geprägte Kontinent will Zusammengehörigkeit zelebrieren. Wird die Zeit wieder kommen, da sich Europäer öffentlich und über alle Grenzen hinweg mit dem einen identifizieren, sich zu dem einen Helden bekennen, der an ihrer Stelle die Kohlen aus dem Feuer holte? Link zum Thema: Erste Bilanz von Kickoff 2008 Übermenschen im HB
Nationale Höchstspannung
Kickoff 2008
Spanisches Wunder
Das Spiel der Medien
Identifikation mit dem Helden
Datum: 02.07.2008
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch