"Die Liebe deckt auch der Sünden Menge."

Nicht meine Liebe, nicht meine Sünden, nicht vor Gott. Der
Zusammenhang zeigt deutlich, daß Bruderliebe gemeint ist, die
nicht Wohlgefallen daran hat, des Bruders Sünden aufzudecken,
sondern zuzudecken. Wer noch meint, er müsse andere
herabsetzen und als Unreine darstellen, damit dadurch seine
Reinheit gehoben werde, der kann gar nicht anders als nach
geheimen Flecken des anderen spüren. Ist der andere noch
dazu ein Nebenbuhler um Gunst oder Ehre vor den Brüdern, oder
neidet man ihm seine unbestreitbaren Vorzüge, oder hat er uns
sehr weh getan, so freut sich der lieblose Christ, jenen
geheimen Schmutz ans Licht zu ziehen - auch wenn die volle
Sicherheit des Beweises noch fehlt. Oder man möchte durch
solche Offenbarung seine unbrüderliche Stellung entschuldigen
und begründen; man protzt mit dem scharfen Gewissen, das
einem nicht gestatte, dergleichen zu dulden. Wie hebt sich
davon das schlichte Wort ab: Die Liebe deckt auch der Sünden
Menge! Wie wohl tut es uns, wenn jemand trotz unserer Mängel
uns sehr liebt und überall verteidigt. Wie weh taten wir
manchem durch rücksichtsloses Aufdecken seiner schmerzenden
Stellen. Hast du in diesem Punkte nichts zu bereuen?

Herr, gehe nicht ins Gericht mit mir, wie ich es mit meinem
Nächsten oft getan habe. Vergib mir jene Härte und lehre
mich die Liebe, die zudecken kann. Ich brauche solche Liebe;
zünde sie in meiner Seele an. Amen.

Datum: 30.06.2002
Autor: S. Keller
Quelle: Fossilien: Stumme Zeugen der Vergangenheit

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