In Teilen von Politik und Wirtschaft ist die Verdrehung von Tatsachen bis hin zur Lüge leider zum Bestandteil der Massenbeeinflussung geworden. Da soll der Zweck, die Wahrung der eigenen Interessen und Macht, die Mittel heiligen. Wer redet und handelt, wie er denkt, gilt in diesen Kreisen als naiv. Anton P.Tschechow hat einmal gesagt: „Auch aufrichtige Menschen können irren, das steht ausser Zweifel, aber solche Irrtümer richten weniger Übel an als vorausberechnete Unaufrichtigkeit, Vorurteile oder politisches Kalkül.“ Aber auch bedingungslose Ehrlichkeit und Offenheit sind nicht immer angezeigt. Denn sie können Menschen in bestimmten Situationen verletzen. Freimütig seine Meinung zu sagen, ist eine Frage der Beziehung und des Vertrauens. Aufrichtigkeit braucht darum immer auch Einfühlungsvermögen und eine Portion Klugheit. Es kommt darauf an, aus welcher Haltung heraus wir andern gegenüber offen und aufrichtig sind. Ob wir vom Recht-haben-wollen herkommen oder von Zutrauen und Wertschätzung. Nach dem französischen Politiker Jules Ferry ist Aufrichtigkeit „eine Tugend, welche ihren Lohn schon im Namen mit sich führt: Sie richtet auf.“ Bei Menschen, die aufrichtig ihre Meinung sagen, wissen wir, woran wir sind. Sie müssen nicht hintenherum über andere reden. Sie trauen sich, uns die Wahrheit zu sagen, weil sie sich frei fühlen. Weil sie nicht abhängig sind von unserer Zustimmung. Weil sie nicht darauf angewiesen sind, bei allen beliebt zu sein. Sie ruhen in sich selbst. Ihre innere Freiheit lässt sie aufrichtig sein und aufrecht gehen. Auch wenn sie Unangenehmes sagen, spüren wir, dass sie es gut mit uns meinen. Ihre Aufrichtigkeit tut gut. In ihrer Nähe können wir uns auch öffnen. Fühlen wir uns aufgerichtet. Können wir aufrecht gehen.
Datum: 14.11.2004
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich