Die 2000er Gänse
Søren Kierkegaard (1813-1855) erzählte folgende Geschichte:
«Die Christen leben wie Gänse auf einem Hof. An jedem siebenten Tag wird
eine Parade abgehalten und der beredsamste Gänserich steht auf dem Zaun
und schnattert über das Wunder der Gänse, erzählt von den Taten der
Vorfahren, die einst zu fliegen wagten und lobt die Gnade und
Barmherzigkeit des Schöpfers, der den Gänsen Flügel und den Instinkt zum
Fliegen gab. Die Gänse sind tief gerührt, senken in Ergriffenheit die
Köpfe und loben die Predigt und den beredeten Gänserich.
Aber das ist auch alles. Eines tun sie nicht: - sie fliegen nicht! Sie
gehen zu ihrem Mittagsmahl. Sie fliegen nicht, denn das Korn ist gut,
der Hof ist sicher und ihr Leben bequem.»
2000er Gänse – oder der Versuch einer Aktualisierung
Die Christen leben wie Gänse verstreut im Wald. Immer wieder lesen
sie im alten Buch und träumen von den guten Zeiten auf dem Hof. Sie
reden von den Urgänsen und davon, wie das Zusammenleben damals so gut
tat. Und dann klagen sie über die heutigen Zustände und bedauern ihre
schlechten Erfahrungen.
Einmal im Jahr treffen sich die Gänse am Waldrand zum grossen Fest. Sie
geniessen die Musik, das feine Essen und das gute Zusammensein. Sie
reden davon, was ein richtiges Gänseleben wäre. Der eingeladene
Gänserich aus fernem Land spricht mit grossen Worten vom Leben auf dem
Hof. Die Gänse senken tief gerührt ihre Köpfe und loben den Gänserich
für seine grossen Visionen.
Dann gehen sie zurück in den Wald. Wohlverstanden – zurück in den Wald –
nicht zum nahen Hof. Sie scheuen sich vor der herausfordernden Nähe zu
den andern und das einsame Leben im Wald ist bequem. Sie hoffen, dass
sie auch so überleben.
Datum: 24.04.2012
Autor: Siegfried Nüesch
Quelle: Livenet