«Menschen ermutigen, Gott trotzdem zu vertrauen»
Livenet: Ruth Bai, was beschäftigt Sie am Jahresende 2011?
Ruth Bai: Mich beschäftigt sehr, dass es in der christlichen Szene immer noch Leute gibt, die meinen, man könne mit genug Glauben und richtigem, vollmächtigem Gebet alles heilen, was weh tut im Leben (sei dies Krankheit, Behinderung oder seelische Schmerzen). Diese Leute, darunter auch Leiter von Werken und Gemeinden, haben vergessen, dass wir in einer gefallenen Schöpfung leben. Leid und Schmerz gehören zu dieser Welt. Für jene Menschen, die von dauernder Krankheit und Behinderung betroffen sind, ist es sehr mühsam, ja sogar widerlich, wenn sie immer und immer wieder «ermutigt» werden, doch dahin und dorthin zu gehen, dann würden sie sicher gesund.
Solange Menschen wie Charles Ndifon (und noch einige amerikanische Heilsprediger) nicht von christlichen Leitern gestoppt, ihre Machenschaften angeprangert und Christen vor ihnen gewarnt werden, können sie weiterhin ihre Lehren verbreiten. Ich würde mir klare Worte zum Beispiel vonseiten der Evangelischen Allianz zu diesen Themen wünschen.
Welche Ereignisse von 2011 bleiben für Sie bedeutungsvoll und wegweisend?
Im Juni führte «Glaube und Behinderung» in Sursee die Fachtagung «Hoffnung trotz Schmerz im Leben» durch. Zu dieser Tagung mit dem Untertitel «Wie können wir denn leben, wenn Gott Leid und Schmerz zulässt?» kamen 500 Leute! 500 Leute erwarteten Hilfe auf ihre Fragen nach dem WARUM!
Es gibt viel Not, viel Schmerz, viel Krankheit und viel Elend. Wir können vieles nicht verstehen, was Gott zulässt, von brutalen Naturkatastrophen bis zu unheilbaren Krankheiten. Warum bekommt eine Familie zwei oder sogar drei Kinder, die alle an einer seltenen Muskelkrankheit leiden und deshalb früh sterben werden? Warum verunfallt ein Mann und ist seit Jahren mit einer schweren Hirnschädigung in einer Pflegeeinrichtung, während seine Frau und die Kinder ihren Weg suchen?
Diese Fragen beschäftigen! Wir haben das Thema angerissen und gemerkt, dass es total dran ist. Wir bearbeiten es weiter – auch wenn es aus der Sicht von manchen Christen eine ganz einfache Lösung gäbe: «Genug Glaube und Heilung!» So einfach ist es nicht. Nur wer am eigenen Leib oder in der näheren Familie und im Freundeskreis solche Dinge erlebt, merkt, wie hart es ist, damit zu leben.
Wir von «Glaube und Behinderung» bleiben dran. Wir ermutigen Menschen mit schweren Lebensführungen, sich zu entscheiden, dem Gott, den sie und wir so oft nicht verstehen, trotzdem zu vertrauen. Wir bleiben bei ihnen und fordern sie auf, «sich in die Hand des Herrn fallen zu lassen, denn seine Barmherzigkeit ist gross» (Die Bibel, 2. Samuel, Kapitel 24, Vers 14).
Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie 2012 auf uns zukommen?
Es wird noch mehr Unverständliches auf uns zukommen. Es wird neue Krankheiten und Diagnosen geben. Liebe Menschen werden von uns gehen. Die Finanzen werden enger und knapper. Unser Glaube wird geprüft.
Die Herausforderung liegt für uns darin, mitten im Leid Gottes Gegenwart und Trost, sein Eingreifen und sein Sorgen für uns handfest zu erleben. Leidende Menschen können andere von Leid betroffene Menschen trösten und verstehen und ihnen vorleben, wie man trotzdem glauben kann. Der Glaube an Gott ist mehr als Wohlstand, Reichtum, Gesundheit und Wohlergehen. Der Glaube, den wir meinen, wird in einem Lied so ausgedrückt: «In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet.»
Welche Worte der Bibel leiten Sie ins neue Jahr?
Die neue Jahreslosung aus dem 2. Brief an die Korinther 12, 9 ist eine enorme Ermutigung für uns: «Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.» Wir behinderten Menschen wissen, was es heisst, schwach zu sein. Es ist nicht wirklich schön. Wir wären zu oft gerne bei den Starken! Aber wir wollen die Kraft Gottes in unserer Schwachheit erleben.
Weitere wichtige Worte für unsere Arbeit unter Menschen mit Behinderung sind: «Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird» (Jesaja 65,17). In der Offenbarung (Kapitel 21, Verse 1+4) wird dies ausgeführt: «Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der vorige Himmel und die vorige Erde waren vergangen und auch das Meer war nicht mehr da. Gott wird alle ihre Tränen trocknen und der Tod wird keine Macht mehr haben. Leid, Klage und Schmerzen wird es nie wieder geben. Denn was einmal war, ist für immer vorbei.» Diese Verse sind keine Vertröstung auf die Ewigkeit, sondern zutiefst Trost aus der Ewigkeit hinein in unsere Zeit.
Ruth Bai-Pfeifer leidet selbst an einer Muskelkrankheit. Sie leitet die Organisation Glaube und Behinderung, die Behinderte ermutigt und begleitet und ihre Integration in die Gemeinschaft fördert.
Buch zum Thema:
Nick Vujicic: Mein Leben ohne Limits
Datum: 27.12.2011
Autor: Ruth Bai
Quelle: Livenet