«Ich will keine Gesellschaft, in der Frauen einen Preis haben»
Livenet: Lilo Hadorn, Sie wirken beim Projekt Rahab Solothurn mit. Was steckt dahinter?
Lilo Hadorn: Die Mitarbeiterinnen von Rahab Solothurn sind überzeugt, dass Gott sie berufen hat, Prostituierten die Liebe Gottes erfahren zu lassen und dadurch Licht in ihre ausweglosen Lebenslagen zu bringen. Durch regelmässige Besuche versuchen die Mitarbeiterinnen von Rahab, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen. Die Prostituierten bekommen ein kleines Geschenk; zum Beispiel ein fein duftendes Shampoo, eine verzierte Kerze, eine pflegende Handcreme oder eine wohlriechende Rose und ein Evangelium in ihrer Muttersprache. Bei Bedarf vermittelt Rahab Solothurn professionelle Hilfe.
«Die Not ist nicht unsere Berufung, aber Gott beruft uns in die Not hinein», sagte einst Schwester Heidi Horisberger, eine ehemalige Mitarbeiterin der Mitternachtsmission in Bern. Dies ist der Leitsatz des Projektes Rahab Solothurn. Im Rotlichtmilieu herrscht aus menschlicher Sicht eine hoffnungslose Not.
Was tun Sie persönlich bei diesem Projekt?
Ich leite das vierköpfige Team von Rahab Solothurn der Christlichen Gemeinde «forum g» in Solothurn. 1-2 Mal pro Monat besuchen wir zu zweit die Prostituierten. Im Vorfeld informiere ich unsere Gebetsgruppe. Frauen und Männer unterstützen unseren Dienst mit ihren Gebeten. Ein wichtiger Teil meines Engagements besteht darin, mich über das Thema Menschenhandel zu informieren und diese Informationen ins Team einfliessen zu lassen. Die Auseinandersetzung mit dem kantonalen Prostitutionsgesetz ist ebenfalls ein Muss für meine Funktion im Team. Damit wir bei Bedarf professionelle Hilfe vermitteln können, kommt ein Erweitern des Repertoires von kompetenten Institutionen dazu.
Was treffen Sie vor Ort an?
In Solothurn und Grenchen gibt es keinen Strassenstrich. Wir treffen die Frauen in Kontaktbars, Cabarets, Mehrfamilienhäusern und zum Teil in Privatwohnungen an. An den Türen der Studios hängen meistens Bilder mit sexistischem Inhalt. Manche Frauen kleben ihren Namen, unter dem sie sich prostituieren, in glänzenden Buchstaben an die Tür. Wir treffen vor allem sehr junge Frauen aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn an. Kürzlich auch Frauen aus China. In Kontaktbars und Cabarets kommen wir manchmal auch mit Lokalbesitzern in Kontakt. Im Normalfall erlauben uns die Besitzer, den Frauen die Geschenke und die christlichen Schriften zu verteilen. Gespräche mit Freiern meiden wir ganz bewusst, ausser sie fragen, wer wir sind und was wir machen. Im Rotlicht treffen wir Menschen, die sich im Grunde genommen nach wahrer Liebe, Akzeptanz und Wertschätzung sehnen.
Wie engagieren sich Christen heute bei diesem Thema?
Seit 2002 nehme ich regelmässig am schweizerischen Rahab-Treffen teil. Es ist ein Treffen von Christen, die sich in der Rotlichtszene engagieren. Ich erinnere mich gut an das erste Treffen mit ungefähr 20 Frauen, vor allem aus Projekten der Heilsarmee und der Mitternachtsmission. Heute nehmen bis zu 80 Frauen und vermehrt auch Männer an den Treffen teil. Dieses Wachstum berührt mich tief. Das Engagement ist ganz unterschiedlich. Es gibt professionelle Projekte mit bezahlten Angestellten, Vereine, Projekte mit ehrenamtlichen Mitarbeitern und Gebetsgruppen.
Sie engagieren sich auch bei der Christlichen Ostmission zum Thema Menschenhandel, was ist ihr Ziel?
Das Ziel ist, mein Umfeld über die Thematik «Frauenhandel und Prostitution» zu sensibilisieren und weitere Menschen zu gewinnen, die gegen diese Ausbeutung aufstehen. Der Kanton Solothurn verzeichnet im Verhältnis zur Einwohnerzahl schweizweit am meisten Fälle von Frauenhandel. Eine erschütternde Tatsache, die zum Handeln auffordert!
Wie gross ist das Problem Menschenhandel in der Schweiz?
Die Schweiz ist Ziel- und Transitland für dieses lukrative Geschäft. 2003 sprach das Bundesamt für Polizei (fedpol) von offiziell 1'500 bis 3'000 Fällen in der Schweiz. Vor drei bis vier Jahren relativierte das fedpol diese Zahlen und sprach von inoffiziell über 3'000 – 6'000 Fällen. Es handelt sich dabei um Hochrechnungen, die nicht belegt werden. Rebecca Angeline von der Schweizer Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration Zürich, FIZ, spricht von 230 Fällen, die von der Fachstelle jährlich unterstützt werden. Eine traurige Feststellung. Es ist in der Tat so, dass nur ein geringer Prozentsatz der Fälle aufgedeckt und die Täter verurteilt werden. Viele Opfer von Menschenhandel bleiben unentdeckt.
Haben Sie schon Frauen getroffen, bei denen Sie feststellten, dass sie Opfer von Menschenhandel wurden? Und konnten Sie ihnen helfen?
Jein! Vor ungefähr 10 Jahren wurde in einem Lokal, in dem ich Frauen besuchte eine Razzia durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass diese Frauen Opfer von Menschenhandel waren. Ich erinnere mich, dass ich beim Besuch jener Frauen etwas spürte und beobachtete, das ich damals nicht in Worte fassen konnte. Heute weiss ich, dass jene Beobachtungen eindeutig Zeichen für Menschenhandel waren. Auf Grund von Aussagen betroffener Frauen kam es zu einer Verurteilung der Täter. Ob die betroffenen Frauen in ihr Heimatland zurückkehrten oder in der Schweiz geblieben sind, weiss ich nicht. Zudem wissen wir nicht, ob die Frauen für die Verarbeitung ihrer Traumata kompetente Hilfe erhalten haben.
Was raten Sie Christen, die sich gegen Menschenhandel engagieren wollen?
Kurz gesagt: Informationen einholen, beten und handeln. Die Christliche Ostmission organisiert Informationsveranstaltungen über die ehrenamtliche Mitarbeit mit Schwerpunkt Menschenhandel. Man kann unter dieser Adresse auch den zweimonatlichen Gebetsbrief der Christlichen Ostmission zum Thema Frauen- und Kinderhandel mit den aktuellsten Informationen und Gebetsanliegen bestellen. Die Ostmission arbeitet zudem in mehreren Ländern präventiv. Für Männer gibt es noch nicht sehr lange den Verein MGF (Männer gegen Frauenhandel). Hier können sich Interessierte informieren. Politisches Engagement, Leserbriefe schreiben und Vorträge organisieren sind weitere Möglichkeiten für Christen.
Was ist Ihr Herzensanliegen?
Das Bewusstsein, dass es in der freien Schweiz Opfer von Menschenhandel gibt, muss in unserer Gesellschaft präsenter werden. Ich wünsche mir ein Umdenken in Bezug auf die käufliche Liebe. Ein Umdenken, das zu einer Veränderung führt. Oder mit den Worten der französischen Frauenministerin Najat Vallaud-Belkacem ausgedrückt: «Ich will keine Gesellschaft, in der Sexualität eine Dienstleistung ist, die vorbeifahrenden Autos wie ein Hamburger angeboten wird. Ich will keine Gesellschaft, in der Frauen einen Preis haben.»
Zur Webseite:
Webseite Schweizerische Kriminalitätsprävention
Männer gegen Frauenhandel, Verein MGF
Christliche Ostmission
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Datum: 27.10.2016
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet