„forum gemeinde innovation“

Gemeindebau durch Sozialarbeit?

Lassen sich christliche Gemeinden zu einer Sozialarbeit inspirieren, die auch sie selbst verwandelt? Das dritte „forum gemeinde innovation“ am 23. März in Aarau vermittelte einen kantigen Anstoss und ein Beispiel dafür, dass dies gelingen kann.
Was tun Christen, wenn der Sozialstaat nicht mehr kann? Hans-Peter Lang.
Geschützter Arbeitsplatz der Stiftung Wendepunkt.
Ein Tag für „Gemeindebauer, Gemeindegründer, Gemeindebegeisterte und Gemeindefrustrierte“: Michael Girgis (IGW) und Reinhold Scharnowski (Focusuisse, rechts) mit Hans-Peter Lang.
Erzählte den Kurden am Fest ihre Geschichte: Johannes Reimer…
…unterhielt den Saal mit einem Feuerwerk von Pointen. Den Laptop vermisste keiner.
Voneinander lernen: Die Referenten im Gespräch.
„Die Transformation beginnt bei mir“: Diskussionsgruppen.

Für Hans-Peter Lang, den Gründer und Leiter der Aargauer Stiftung „Wendepunkt“, ist klar, dass der Sozialstaat den sich auftürmenden Problemen nicht mehr gewachsen ist. Vor den 200 Teilnehmenden des von IGW und Focusuisse veranstalteten ‚forum’ zitierte er einen Nationalrat, der kürzlich fragte: Wenn ihr Christen nicht endlich aus der Kirche kommt – wer soll da helfen? Den Grund sieht Lang darin, „dass wir die christlichen Werte Wahrheit und Fürsorge – Grundlage des christlichen Abendlandes – verlassen haben. Die Kirche verkündigt zwar gesellschaftlich relevante Sozialdiakonie, aber diese bleibt ein rein virtuelles Angebot.“ Und noch spitzer: „Wir Christen haben unsere Glaubwürdigkeit verloren und zerstören so das uns anvertraute Evangelium, weil wir die Botschaft der Liebe und Gnade nicht leben.“

Mehr Wohlstand, verflüchtigte Hoffnung

Der Unternehmer und Ex-68er ging auf den Wandel des Arbeitsmarkts nach dem Zerfall des puritanischen Arbeitsethos ein. Im Vorherrschen wirtschaftlicher Erwägungen schlage die Macht des Mammon über die Gesellschaft durch. „Ein wilder Kapitalismus zerstört menschlichen Anstand und Humanität. Auf Biegen und Brechen wird Gewinn gemacht.“ Wegen der Verschiebung von Arbeitsplätzen ins Ausland fielen hier gut bezahlte Stellen weg und zahlreiche schlecht bezahlte Teilzeit-Jobs entstünden. „Der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslose bleiben auf der Strecke.“ Für Lang haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg Hoffnung und Sinn verflüchtigt, wie der Wohlstand zunahm. Viele Familien lebten an oder unter der Armutsgrenze. Eine Million Menschen (Arbeitslose, Ausgesteuerte, körperlich und psychisch Invalide) werden von Staat und Gemeinden versorgt.

Die Gesellschaft und ihre „soziale Trinität“

Die heutige Problemlage hat laut Lang ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, als die Kirche, von der Aufklärung gebeutelt, für den Aufbau des Sozialstaats christliche Wertvorstellungen nicht einbrachte. Das Menschenbild wurde humanistisch-positiv umgeprägt. Zwar reagierten Pietisten mit diakonischen Werken auf die Not im Frühkapitalismus, doch die meisten Arbeiter verabschiedeten sich von der Kirche. Statt der christlichen Gottesvorstellung sei eine „soziale Trinität“ wegweisend geworden: Sicherheit – Gerechtigkeit – Frieden.

Das Schweizer Sozialversicherungssystem wurde nach Lang auf der „Fiktion der Vollbeschäftigung“ aufgebaut. Wenn ein Jugendarbeitsloser 63'000 Franken pro Jahr kostet, belasten 50'000 das System mit über 3 Milliarden Franken. Der Zerfall vieler Familien (90% der jugendlichen Ausreisser und Obdachlosen ohne Vater!) und das Nichtgenügen ausländischer Jugendlicher am Arbeitsmarkt tragen bei zum Gesamtbild eines Sozialstaats, der an seine Grenzen kommt und seine Leistungen kürzen muss. „Rentisierte fallen in ein Vakuum und haben keine Chance mehr“. Wo kommen wir hin, wenn junge Menschen als Berufsziel „Sozialhilfeempfänger“ haben?

„Den Willen von Jesus tun“

Um den Verfall aufzuhalten und dem Elend zu wehren, sollten Christen tätige Nachahmer von Christus werden, forderte Hans-Peter Lang. Sie hätten es in der Hand, der Gesellschaft den Weg zu weisen: nicht bloss „Gutes tun – sondern den Willen von Jesus tun“. Der Wendepunkt-Leiter schilderte das Wachsen der mit 1'000 Franken Kapital im Jahr 1993 gegründeten Stiftung zum weitverzweigten Sozialwerk, das heute 550 Erwerbslose, psychisch geschwächte und invalide Menschen sowie Asylsuchende betreut und fördert. „Wer lange arbeitslos war, hat Angst vor einem neuen Job. Doch nach dem Einsatz bei uns finden 50-80 Prozent in der Wirtschaft einen Arbeitsplatz.“

Leistung fordern, Betreuung bieten

Im Wendepunkt sind der Arbeits- und der Sozialbereich miteinander verzahnt. „Die Sozialarbeit ist menschenorientiert, ich als Unternehmer lösungsorientiert.“ Die Stiftung hat im Aargau drei Standorte (geschützte Werkstätten unter Leitung bekennender Christen) und drei Tochterfirmen mit 150 Beschäftigten: die Zimmerei und Malerei Doppelpunkt AG, eine Personalvermittlung und die Fachschule für Sozialmanagement. Dazu kommen zwei Wohngemeinschaften, eine Kindertagesstätte und in der Aarauer Altstadt ein Restaurant und Begegnungszentrum.

„Meine Vision sind hundert solche Zentren“, rief Lang in den Saal. Jede christliche Gemeinde könnte eines eröffnen. „Hierher kommen Menschen, um zu reden – nicht in eine Kirche.“ Lang erwähnte, dass die Mitarbeitenden des Wendepunkt jeden Morgen vor Arbeitsbeginn zum Gebet eingeladen sind; die Hälfte komme. Um über die Grenzen des Aargau hinaus mehr solche Initiativen anzuregen, baut er eine Schule für Sozialmanager auf. „Die Gesellschaft braucht Glauben, Hoffnung und fördernde Liebe. Mit diesen Leuten arbeiten kostet Nerven, kostet Kraft. Ohne die Liebe Gottes können wir es nicht.“ Lang schloss mit dem Bild der christlichen Gemeinde, die in der rechten Hand das Evangelium darbietet und in der linken Hilfe bereithält.

Strasse fegen und mit den Kurden feiern

Am Nachmittag schilderte der deutsche Gemeindebauexperte und Pastor Johannes Reimer, was ein Besuch der Ältesten seiner Gemeinde südlich des Ruhrgebiets bei Wendepunkt bewirkte. Vorher habe er jahrelang Anregungen gegeben – vergeblich. „Nach dem Besuch haben wir die Strasse gefegt, Müll weggeräumt, Geländer gestrichen und eine bankrotte Tankstelle übernommen, damit die Leute im Dorf tanken können.“ Seitdem ist die Gemeinde Partnerschaften mit Vereinen eingegangen, sie fördert und integriert Erwerbslose. Mit den Kurden der Stadt führte sie ein Fest der kulturellen Begegnung durch. Reimer nutzte es, um ihnen die vorislamische, christliche Geschichte ihres Volks darzulegen...

Sich hineingeben ist besser als herausfischen

Mit dem neutestamentlichen Begriff für Kirche (ekklesia) unterstrich der Missionswissenschaftler, dass es nicht primär darum gehen kann, Menschen aus der Welt herauszufischen. Gott habe mit der Kirche viel mehr im Sinn: „Ekklesia ist Gottes Wirklichkeit inmitten der Welt mit dem Ziel, diese Welt, Gesellschaft und Kultur, zu transformieren.“

Ernüchtert wurde ein Christ, als er in seinem Ort vernahm, dass man seine Freikirche, sollte sie eingehen, gar nicht vermissen würde. Reimer zeichnete in Aarau das Bild einer Gemeinde, „die nicht für sich selbst existiert, die nicht anders kann, als nach aussen zu wirken“. Inkarnation (Christus wurde Mensch) solle sich im Leben der Kirche fortsetzen: „Das materiell Fassbare, das sozial Gestaltete am Wort Gottes ist es, was am Ende die Herrlichkeit Gottes freilässt.“

Wachstum ohne veranstaltete Evangelisation

Laut Reimer steht nirgends in der Bibel geschrieben, „dass wir in die Welt gesandt sind, um möglichst viel zu reden – sondern als Zeugen“. Das Wort der Versöhnung solle im Leben von Menschen Gestalt gewinnen. Die ekklesia habe in Dörfern und Städten für alle Bereiche des Lebens Verantwortung zu übernehmen. Seine Gemeinde, die sich auch nicht zu schade war, öffentliche Toiletten zu reinigen, ist in sieben Jahren stark gewachsen. „Wir haben keine Evangelisation gemacht. Nur gedient.“

Mit Schlaglichtern auf die Entwicklung christlicher Gemeinden im mittelasiatischen Kasachstan deutete Reimer an, dass Völker auf den Geschmack kommen, wenn Christen sich selbstlos einsetzen. „Von einer grossen Anbetungskonferenz nahm die Öffentlichkeit nicht Notiz. Als die Christen hingingen und die Stadt aufräumten, kamen die Kamerateams.“ Kasachische Christen seien als Regierungsberater engagiert worden, nachdem kund geworden war, dass sie im korruptionsgeplagten Land ihre Steuern wie gefordert bezahlt hatten. Reimer: „Lasst euch gewinnen für eine ekklesia, die gesellschafts- und kultur-transformativ tätig ist.“

Idea-Gespräch mit Hans-Peter Lang: „Gott gab einen klaren sozialen Auftrag“
Homepage der Stiftung Wendepunkt

Datum: 03.04.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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