Die Bibelkritik am Alten Testament

Fragment eines der ältesten Manuskripte des Alten Testaments. Es befindet sich heute in The Israel Museum in Jerusalem.

Wir haben schon gesagt, dass wir in den Kapiteln 2 und 3 unsere eigene Überzeugung von der Entstehungsgeschichte des Alten Testaments wiedergegeben haben. Das war nicht die Sicht vieler moderner Theologen. Die von uns wiedergegebene Auffassung entspricht aber dem Verständnis sehr vieler orthodoxer Theologen. Unsere Auffassung hat ihren Schwerpunkt in dem, was wir aus der Schrift über den kanonischen Charakter (Kapitel S) und die göttliche Inspiration (Kapitel 6) der verschiedenen Bücher der Bibel gelernt haben. Deshalb sind die vorigen Kapitel auch alle sehr eng miteinander verbunden. Aber es wäre unrichtig, den Eindruck zu erwecken, unsere Auffassung würde von den meisten Theologen unserer Tage geteilt. Das ist leider nicht der Fall, und wir werden nun nachprüfen, warum. Wir werden fragen: Was ist "Bibelkritik"? Wie ist sie entstanden? Was ist ihre Version von der Entwicklung und Überlieferung des Alten Testaments? Was sind ihre Behauptungen, und worauf gründet sie sich? Und schliesslich: Warum und auf welche Weise müssen wir ihr begegnen?

Was ist Bibelkritik?

Grob gesagt ist die "Bibelkritik" ganz einfach die Wissenschaft, die sich mit dem Ursprung und dem heutigen Zustand des Urtextes der Bibel beschäftigt. Auch hier müssen wir wieder zwei Begriffe auseinanderhalten: (1) Die "niedere Kritik" oder kurz gesagt, die Textkritik, die sich mit der Festlegung der richtigen Worte des ursprünglichen Bibeltextes beschäftigt - eine Wissenschaft, die wirklich von Nutzen ist (wir wiesen in Kapitel 3 und 4 schon ausführlich darauf hin). (2) Die "höhere Kritik" kurz Bibelkritik (im engeren Sinn) genannt, die sich mit dem Inhalt des Textes auf Grund des Wesens, der Form und des Themas der verschiedenen Bücher der Bibel befasst. Dabei berücksichtigt sie Angaben über die Umstände der Autoren und Empfänger der Bücher. Die Themen, mit denen sich diese Bibelkritik beschäftigt, sind Fragen der Glaubwürdigkeit, der Echtheit, der Integrität und der literarischen Form der verschiedenen Schriften, die zusammen die Bibel bilden. An sich könnte ein solches Studium eine gewisse Objektivität wahren, aber das Urteilen über das Wort Gottes und das Anzweifeln der Inspiration kann eigentlich nicht anders als zu einem Trugschluss führen. Die Geschichte hat das dann auch deutlich bewiesen.

Schon solange es Bibelbücher gibt, gibt es auch Kritik am Inhalt und Umfang der Heiligen Schrift; denken wir z.B. an die Einschränkung des Kanons durch die Sadduzäer und Samariter und später bei Marcion (Kapitel 5). Julianus, der Abtrünnige, entwarf im 4. Jhdt. eine Art evolutionistische Entwicklungsgeschichte der Lehre von Christus. Als der Streit um den Kanon schliesslich beigelegt und der Kanon für immer festgelegt war, entbrannte ein neuer Streit an der Frage, was nun in diesem Kanon wesentlich und was unglaubwürdig oder unwichtig war. Jetzt ging es nicht mehr um den Umfang, sondern um die (historische und dogmatische) Autorität des Kanons.

In dieser kurzen Abhandlung können wir leider nur oberflächlich auf die Geschichte der alttestamentlichen Bibelkritik eingehen. Einen ersten Anfang der modernen literarischen Kritik sehen wir schon bei Karlstadt (1520), der u.a. die Verfasserschaft des Mose für den Pentateuch leugnete. A. Masius (1574) sagte zum ersten Mal, dass die Bücher der Bibel zusammengestellt und redigiert sein könnten.

Neben diesem und anderen römischen Autoren sehen wir eine humanistische Linie (vertreten durch Hugo de Groot), die den historischen Kontext betonte und Parallelen zu heidnischen Kulturen und Religionen suchte (so auch J. Lightfoot und J. J. Wettstein). Diese Linie wurde von den englischen Deisten und anderen, die die Inspiration der Bibel als Wort Gottes verwarfen (Th. Hobbes, I. de la Peyr&e, B. de Spinoza, R. Simon; 2. Hälfte 17. Jhdt.), weiter verfolgt. Und immer war die Kritik am Pentateuch in bezug auf die Verfasserschaft Moses einer der Hauptgründe.

Diese Kritik führt Anfang des 18. Jhdts. vor allem im Blick auf den Pentateuch zu der "Quellenscheidungstheorie". Der erste, der angesichts des Kanons verschiedene Quellen zu unterscheiden versuchte (d.h. verschiedene Schriften, die erst später zu den verschiedenen Büchern der Bibel zusammengestellt wurden), war H. B. Witter (1711), der in 1. Mose 1-3 zwei Quellen zu erkennen meinte, die durch einen Unterschied im Namen Gottes gekennzeichnet sein sollten. J. Astruc (1753) meinte in 1. Mose sogar drei Quellen unterscheiden zu können, die von Mose zusammengestellt wurden und später ganz verschmolzen sein sollten zu dem heutigen Buch Genesis. Auch Astruc wies genau wie Witter vor allem auf die verschiedenen Gottesnamen in 1. Mose hin als Kennzeichen für die unterschiedlichen Quellen. Diese Erkenntnis wurde die Basis der QueIlenscheidungstheorie, deren neue Linie von J. G. Eichhorn (1780-83) kräftig durchgezogen wurde. Er gebrauchte nun zum ersten Male den Ausdruck "höhere Kritik" und wird der "Vater der alttestamentlichen Kritik" genannt. Er unterteilt 1. Mose in den "Jahwisten" (J), die Quelle, die den Namen Jahwe gebrauchte, und den "Elohisten" (E), die Quelle, die den Namen Elohim (Götter) benutzte. Er führte auch neue Kriterien ein, wie "Parallelgeschichten" und "Duplikate" (z.B. die "zwei Geschichten" in der Sintflutgeschichte).

Diese subjektiven Kriterien führten neben einer Quellenscheidungstheorie schon bald zu einer "Fragmententheorie", die unzählige Quellen im 1. Buch Mose "entdeckte" (K. D. Ilgen, A. Geddes, J. Vater; ca. 1800). Zu dieser Gruppe gehört auch der bekannte Theologe W.M.L. de Wette, der ausserdem die ganze Religionsgeschichte Israels strikt evolutionistisch auffasste und eine ganz neue Quelle D (von Deuteronomium) vorstellte (sie würde aus dem späten 7. Jhdt. v. Chr. stammen), um die Entstehung des Buches Deuteronomium (5. Buch Mose) zu erklären.

Die Fragmententheorie wurde von H. Ewald (1823) verworfen und durch eine "Ergänzungstheorie" ersetzt, wobei er von einer elohistischen "Grundschrift" ausging, die allmählich durch Teile späterer Quellen ergänzt wurde. Im Jahre 1840 arbeitete er dieses dann zu einer "Kristallisationstheorie" aus, bei der er davon ausging, dass alle Verfasser, die hintereinander Beiträge zu den Mosebüchern lieferten, gleichzeitig das ganze zur Verfügung stehende Material überarbeiteten.

Datum: 24.06.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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