«Wie eine Hebamme, nur in die andere Richtung»
Lissy, du arbeitest im Hospiz. Wie kam es dazu?
Lissy Schneider: Dass ich mich mehr mit Tod und Sterben auseinandersetzen wollte, hatte verschiedene Gründe: Bei einem meiner Patienten sollte ich einen Verbandswechsel machen, aber als ich ihn sah, wusste ich, dass dieser Mann in den nächsten Stunden sterben würde. Trotzdem war ich unsicher: Schätze ich das richtig ein? Und wie spreche ich das bei seiner Frau an? Es ist klar, wir sterben alle. Aber trotzdem redet man irgendwie nicht darüber. Bei einer älteren Frau lag die Traueranzeige ihrer Freundin, die schon über 90 Jahre alt gewesen war. Darauf stand: «So plötzlich wurdest du aus unserem Leben gerissen.» In diesem Alter wird man ja nicht plötzlich aus dem Leben gerissen! Aber das Gespräch darüber fand ich schwierig. Damals habe ich gemerkt, dass ich gern meine Kompetenzen dazu erweitern möchte. Also habe ich eine Palliativ-Weiterbildung gemacht. Kurz darauf wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, als Krankenschwester für Nachtwachen im Hospiz zu arbeiten. Drei Monate später habe ich in der ambulanten Pflege gekündigt und arbeite seitdem nur noch im Hospiz.
Was hast du in der Weiterbildung gelernt?
Dass das Sterben zum Leben dazugehört. Mittlerweile kann ich auch ganz selbstverständlich darüber reden. Inzwischen kenne ich auch die Sterbeprozesse, durch die Menschen gehen, wenn sie nicht gerade durch einen Unfall sterben. Das habe ich aber nicht nur durch die Weiterbildung gelernt, sondern auch durch den Umgang mit Sterbenden.
Was hat dich bei deiner Arbeit im Hospiz überrascht?
Ich dachte anfangs, dass alle Menschen zum Schluss in eine Weisheit hineinkommen und ihr Leben reflektieren. Wahrscheinlich kam das durch Filme, Bücher oder Predigten. Tatsächlich ist es aber anders: So, wie du lebst, stirbst du auch. Es gibt Menschen, die sich intensiv damit auseinandersetzen. Und andere sterben einfach. Sie wollen weder darüber reden noch etwas bereinigen. In jedem Fall versuchen wir im Hospiz gemeinsam herauszufinden, was die Person möchte, um würdevoll sterben zu können. Manchmal gelingt es auch, letzte Wünsche zu erfüllen, zum Beispiel noch mal in ein Musical zu gehen oder mit Freunden zu grillen. Aber das Schönste, was wir im Hospiz bieten können, ist Zeit. Weil wir einen hohen Stellenschlüssel haben.
Wie gehst du damit um, wenn jemand Angst vor dem Sterben hat? Wie kann man das lindern?
Dabei sein. Hände halten. Bei Menschen, die keine Schmerzmittel erhalten möchten, hältst du manchmal Hände wie bei einer Geburt. Oder beruhigend etwas erzählen. Das mögen aber nicht alle. Wir sind in eine Menschengemeinschaft hinein geschaffen. Und gerade an den Punkten, an denen es schwierig wird, zeigt sich, wie tröstlich menschliche Nähe ist.
Hast du auch Gelegenheit, zu beten oder etwas zu sagen, was aus deinem Glauben herauskommt?
Ja, wenn es in die Situation passt. Bei Nachtwachen bietet sich das manchmal an oder wenn ich spüre, dass jemand Ängste hat. Dann erzähle ich, dass ich bete, wenn ich Angst habe, und frage, ob ich das auch hier machen kann. Dafür sind viele Menschen offen. Ein Übergabegebet zu sprechen, finde ich allerdings schwierig. Denn es handelt sich ja oft um Menschen, die gar nicht mehr in eine Diskussion gehen können. Aber ich gehe sehr präsent und offen mit Jesus in diese Situationen hinein. Bei einer Frau hatte ich zum Beispiel den Eindruck, dass ich mit ihr den Psalm 23 beten soll. Das war mir erst zu krass. Ich bin trotzdem zu ihr gegangen und habe erst über alles Mögliche geredet. Aber es war klar, dass ich es machen muss. Als ich es ihr dann erzählt habe, ist sie in Tränen ausgebrochen, weil es ihr Konfirmationspsalm war. Sie war siebzig Jahre alt und hatte sich den Grossteil ihres Lebens hauptsächlich mit Esoterik beschäftigt. Und dann bat sie mich, mit ihr zu beten: «Aber ich bete, und Sie sollen mein Zeuge sein!” Das haben wir gemacht, und es ist bis heute etwas ganz Besonderes für mich.
Wie schaffst du es, dass Tod und Sterben nicht deinen Alltag oder dein Familienleben belasten?
Da würde wahrscheinlich jeder etwas anderes antworten. Aber mich belastet es einfach nicht. Zum einen bin ich vom Typ her ziemlich resilient. Ausserdem arbeite ich, wie die meisten von uns, in Teilzeit im Hospiz, was bestimmt auch an der Thematik liegt. Ein anderer Grund, warum es mich nicht belastet ist, weil wir alle sterben. Weil ich weiss, dass es zu unserem Leben dazugehört. Der Tod ist immer ein Teil von uns. Und er ist auch bei uns in der Familie kein Tabu-Thema. Wir wohnen ja über einem Bestatter und sind damit wirklich mittendrin.
Was hast du von den Menschen gelernt, die du im Hospiz begleitest?
Geniessen. Und das Leben zu feiern! Eine Frau zum Beispiel liebte ihren Milchkaffee am Morgen über alles. Ihre beste Freundin und ich haben ihr bis zum Schluss morgens mit einer Pipette Milchkaffee in den Mund eingeträufelt. Ihr Gesicht dabei zu sehen, hat mich so gerührt! Und ich liebe es, im Hospiz früh morgens die Fenster zu öffnen, weil die Vögel draussen zwitschern. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich habe noch mehr gelernt, Kleinigkeiten zu schätzen, für Alltäglichkeiten dankbar zu sein. Früher wollte ich gern stark wirken, es allein schaffen. Jetzt denke ich: Zum Schluss schaffe ich es nicht allein. Dann möchte ich auch jemanden, der mich morgens anlächelt und mir zeigt, dass ich nicht zur Last falle. Was ich an meiner Arbeit toll finde: Man kommt mit so vielen interessanten Lebensgeschichten in Kontakt. Was Menschen und vor allem Frauen alles durchgemacht haben – Hut ab! Man kann viel mehr bewältigen, als man denkt. Gleichzeitig können wir mitbestimmen: Werde ich bitter? Ich bewundere auch diejenigen, die bitter geworden sind. Aber am meisten feiere ich die, die versöhnt mit dem Leben sind. Auch mit dem Schweren, das sie erlebt haben.
Was ziehst du für Schlüsse daraus?
Wir können unser Leben bereichern durch unsere Haltung. Wir können das Leben bejahen, wie es ist, und uns versöhnen mit getroffenen Entscheidungen. Bei uns war zum Beispiel ein Mann, der sich alles Mögliche vorgenommen hatte, was er und seine Frau nach der Rente zusammen machen könnten. Eine Woche vor der Rente kam er ins Hospiz. Das Wichtigste für mich in der Begleitung war, ihm zu sagen: «Versöhnen Sie sich damit, dass Sie es nicht gemacht haben.” Das heisst aber nicht, alles hinzunehmen: Wenn dich etwas in deinem Leben stört, sieh es dir an und frag dich, woher das Bedürfnis kommt.
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Datum: 18.08.2025
Autor:
Debora Kuder
Quelle:
Magazin Joyce 03/2025, SCM Bundes-Verlag