Der amputierte Wahlspruch

«Tue recht und scheue niemand»...?

Wohl kaum ein anderes Lebensmotto wird von «anständigen» Menschen so häufig zitiert, wie das im Titel. Einige meinen sogar, es sei ein Bibelspruch. Dabei ist es ein amputiertes Sprichwort…
Mann hält den Zeigefinger hoch

«Ich habe mich immer an diesen Spruch gehalten», erklärte Frau W. im Gespräch mit ihrem Pfarrer: «Tue recht und scheue niemand». Wenn man – vor allem ältere – Menschen nach ihrem Lebensmotto fragt, kommt wohl kaum ein Spruch so häufig vor. Er klingt gut, nicht wahr? Vor allem das «scheue niemand» kommt so richtig gut rüber – ein bisschen aufmüpfig. Da stellt sich einer hin und will sagen: «Wenn ich das tue, was mir mein Gewissen sagt, kann mir doch niemand einen Vorwurf machen (in Klammern: nicht einmal der Herrgott)».

Kein Bibelspruch

Zunächst einmal: Das hier ist kein Bibelspruch. Es gibt keinen Vers in der Bibel, der so lautet. Die Herkunft des Verses ist auch unbekannt. Im Gedicht von Ernst Moritz Arndt «Teutscher Trost» heisst die letzte Zeile «Tue recht und fürchte nichts.» Daraus wurde in späteren Fassungen «…scheue niemand» – sicher auch in der Absicht, der herrschenden Obrigkeit schon mal die Stirn zu bieten.

Was ist «recht»?

Der schöne Vers wird problematisch, wenn wir ganz einfach fragen: «Was ist denn recht? Wer sagt, was 'recht tun' bedeutet?» Und wenn mein eigenes Gewissen der Massstab ist: was, wenn «recht tun» für jemand anderen etwas anderes bedeutet? Es gab einmal eine Zeit, in der die Zehn Gebote so etwas wie «Allgemeingut» waren; sie waren die Grundlage unserer Gesellschaft, und das funktionierte einigermassen. Aber heute, im 21. Jahrhundert, haben sie bei uns im Westen kräftig an Bedeutung verloren. «Tue recht» wird immer mehr zu einem ziemlich beliebigen Massstab.

Der amputierte Spruch

Was die meisten Menschen nicht wissen: Ursprünglich hiess der Spruch «Fürchte Gott, tue recht und scheue niemand.» Nun bekommt das Wort plötzlich einen Sinn und einen Anker. «Fürcht Got, Thue recht, Schew niemandt» hiess es bereits im Jahr 1592. Hier haben wir eine Ethik, die in Gott verankert ist und wo sich eins aus dem anderen ergibt: Wenn ich in einer lebendigen Gottesbeziehung lebe, lerne ich, richtig zu handeln; das hat eine innere Freiheit zur Folge - ich kann das Haupt erheben und bin kein Knecht von Menschen.
Irgendwann in der Aufklärung, als die Frömmigkeit zur Privatsache erklärt wurde, hat man «fürchte Gott» dann gestrichen.

Gott «fürchten»?

Eine kurze Zwischenbemerkung: Muss man Gott denn «fürchten»? Muss man Angst vor ihm haben? Ganz sicher nicht. Das Wort «fürchten» ist eher im Sinne von «Ehrfucht» zu verstehen. Martin Luther hat es gut ausgedrückt: «Wir sollen Gott fürchten und lieben…» Gott ist kein Spielzeug, aber das Neue Testament macht klar: Jesus hat den Weg freigemacht, dass wir Gott lieben können, ohne Angst vor ihm zu haben – weil er die Schuld und alles Trennende weggenommen hat.

Das ist die befreiende Botschaft des Neuen Testaments: «Recht tun» und meine ganze Anstrengung ist nicht das, was mich vor Gott in Ordnung bringt. Sondern der Glaube an Christus und das, was er stellvertretend für uns getan hat. Wie gut, einen festen Boden für unsere Beziehung zu Gott unter den Füssen zu haben!

Scheue niemand

Noch einmal zurück zu unserem Sprichwort: Unsere Zeit zeigt, dass es so etwas wie einen Domino-Effekt gibt, wenn man den ersten Teil dieses Wortes streicht. «Fürchte Gott» ist schon lange gefallen. «Tue recht» wird immer wackliger. Bald heisst es nur noch «Scheue niemand»… 

Zum Thema:
Das Rechte tun
– was heisst das?
6000 Punkte für den Himmel
– Teil 1/2
Wo fehlt's denn? 

Datum: 08.09.2016
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Jesus.ch

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