Sind Christen zu unbedingter Solidarität mit Israel verpflichtet?

Israel
Jude

Seit Ausbruch der israelisch-palästinensischen Unruhen ist Israel immer mehr ins Kreuzfeuer der internationalen Politik geraten.

Zahlreiche Entscheidungen der Regierung von Ministerpräsident Ariel Sharon, etwa der Ausbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland, die Abriegelung palästinensischer Gebiete und die Liquidierung von Terroristenführern, das militärische Vorgehen werden auch in Kirchenkreisen heftig kritisiert, während evangelische Gruppen meist die Position Sharons verteidigen.

Immer mehr Christen fragen nach ihrem Platz in diesem Konflikt. Verpflichtet die Bibel zur unbedingten Solidarität mit dem heutigen jüdischen Staat? Dieser Ansicht ist der evangelische Pfarrer Winfried Amelung (Chemnitz), Vorsitzender des Arbeitskreises “Hilfe für Israel”. Anderer Meinung ist der evangelische Propst von Jerusalem, der deutsche Pfarrer Karl-Heinz Ronecker. Der Theologe vertritt die EKD in Israel, im Westjordanland und in Jordanien.


Kontra: Auch Israel muss sich an das Recht halten

Sind Christen zu unbedingter Solidarität mit Israel verpflichtet? Wer von dem lebendigen Gott mehr erfahren will als einen Namen, der muss die Geschichte Israels betrachten. Sie ist ein gewaltiges Bilderbuch. Von Abraham bis David, von David bis zu den grossen Propheten, von den Propheten bis über das babylonische Exil hinaus wird uns erzählt, wie Gott an den Menschen handelt und wie diese mit ihm umgehen. Immer wieder taucht Gottes Erbarmen auf, das mächtiger ist als das Gericht. Es wird zugleich die Treue sichtbar, die Gott seinem Volk bis heute gehalten hat.

Wollten wir uns als Christen von Israel trennen, lösten wir uns von unseren eigenen Wurzeln. Dann sägten wir nach Meinung des Apostels nicht nur den Ast ab, auf dem wir sitzen, sondern fällten einen ganzen Baum: Das Christentum ist ins Judentum wie ein Zweig in einen alten Baum eingepfropft. Christen würden sich um ihre eigene Glaubensgeschichte betrügen, wenn sie Abraham, Isaak und Jakob sowie das Gesetz und die Propheten für überflüssig und veraltet erklärten. Um Gottes Treue willen müssen wir allem Antijudaismus und seinen Spielarten entgegentreten. Nach dem vielen Unrecht, das Christen den Juden angetan haben – nicht zuletzt in Deutschland –, haben Christen für das Leben Israels einzutreten. Sofern der Staat Israel eine Heimstätte für das so lange verfolgte und gequälte Volk ist, müssen wir seine Existenz wollen. Wir müssen auch mit aller Leidenschaft dafür eintreten.

Zwischen den Juden und ihrer Regierung unterscheiden

Zugleich gilt auch: Bei aller Liebe zu Israel und zu Gottes Verheissungen darf es nicht dazu kommen, dass wir die palästinensischen Christen hassen, verachten oder schlichtweg übersehen. Es gilt aber auch, zwischen dem jüdischen Volk und seiner Regierung zu unterscheiden. Wie in allen Nationen der Welt gibt es auch in Israel immer wieder Politiker, die nicht dem Volk nützen wollen, sondern eigenen Interessen folgen. Manche Politiker orientieren sich an einer Mischung aus Theokratie und Nationalismus und erinnern dabei an König Zedekia und dessen Ratgeber. Über Zedekia, den der persische Herrscher Nebukadnezar (652-604 v.Chr.) als König über Juda einsetzte, heisst es im Alten Testament: Er “tat, was dem Herrn missfiel”, indem er sich am Götzenkult beteiligte und meinte, die Freiheit Judas herstellen zu können, ohne nach dem Willen Gottes zu fragen (2. Könige 24,19f). Der Zorn über solche Politiker darf aber niemanden dazu verführen, aus der Solidarität mit dem jüdischen Volk auszuscheren, dem auch Jesus angehörte.

Wir müssen den Schmerz über die ungelösten Fragen aushalten, auch wenn sie wie eine offene Wunde weh tun. Nur dort, wo wir uns nicht vorschnell und mit halben Antworten zufrieden geben, bleibt Raum für den, der grösser ist als alle Vernunft, aber auch grösser als alle Verzweiflung.

Als der frühere badische Landesbischof Klaus Engelhardt EKD-Ratsvorsitzender wurde, galt sein erster Auslandsbesuch dem Staat Israel. An einem Abend sassen wir mit Professoren der Hebräischen Universität zusammen. Während des sehr engagierten Gesprächs fragte einer der Teilnehmer, woher es denn komme, dass hauptsächlich Israel für alle Missstände im Nahen Osten kritisiert und für den Konflikt mit den Palästinensern verantwortlich gemacht werde. Da antwortete ein älterer Professor: “Wir werden oft über Gebühr angegriffen, weil man uns an der Botschaft der Propheten misst.” Damit wollte er sicherlich an Männer wie Amos erinnern, der Israel mahnte: “Es fliesse aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach” (Amos 5,24). Oder an Micha: “Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Güte lieben und Gerechtigkeit üben …” (Micha 6,8).

Israel muss sich an den Geboten messen lassen

Dazu passt die Beobachtung, dass das Volk Israel durch die Sinai-Wüste zog, bevor es ins verheissene Land einziehen konnte. Es musste am Berg Sinai vorbei. Dort erhielt es die Gebote. Und an denen muss es sich messen lassen. Weil das Halten der Gebote so schwer ist, steht in der Bibel gleich zweimal die Mahnung: “Um euretwillen wird mein Name gelästert unter den Heiden.” Der Prophet Jesaja richtet diesen Vorwurf an die Adresse Israels (Jesaja 52,5). Paulus nimmt ihn im Römerbrief auf (Römer 2,24), so dass auch Christen sich angesprochen fühlen müssen. Schadenfreude nach dem Motto: “Da seht mal, die Juden sind ja auch nicht besser als alle anderen” ist nicht angebracht.

Das biblische Zeugnis ist eindeutig: Juden und Christen werden alle an dem gemessen, was sie glauben und bekennen. Da macht auch Israel keine Ausnahme.

Pro: Gott handelt – ohne Erlaubnis der UNO

Sind Christen zu unbedingter Solidarität mit Israel verpflichtet? Die Alternative würde lauten: Christen haben keine besondere Verpflichtung gegenüber Israel! Sie könnten sich dann sogar am Hass und an der Gegnerschaft gegen Gottes altes Bundesvolk beteiligen, wie es viele – vor allem islamische Staaten – tun. “Das sei ferne von uns!” (1. Samuel 14,45). Für Christen sollte klar sein, dass sie zuerst auf das Wort Gottes hören. Und daraus ergibt sich: Gottes Verheissungen für Israel gelten auch im 21. Jahrhundert. Überlegungen, wonach Christen die jüdischen Verheissungen “geerbt” hätten, sodass der Staat Israel für sie keine Bedeutung habe, widersprechen der Überzeugung des Apostels Paulus, dass Israel “die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bündnisse (so wörtlich) und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheissungen” (Röm 9,4). Zu den ersten Aussagen Gottes gehört die Zusage eines eigenen jüdischen Landes: “Ich will dir und deinem Geschlecht nach dir das Land geben, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewigem Besitz, und will ihr Gott sein” (1. Mose 17,8). Wer Israel etwas von Gottes Verheissungen wegnimmt, bestiehlt Gott und verliert damit auch den Segen Gottes, der Israel versprach: “Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen” (1. Mose 12,3). Deshalb gibt es nur ein “Entweder – Oder”: Entweder “ich glaube” Gottes Wort und nehme es ernst, oder “ich relativiere” diese Worte und finde zu faulen Kompromissen.

Gott steht zu Israel

Leider wird Israels Berufung trotzdem von vielen Christen nicht anerkannt. Selbst streng orthodoxe Juden sehen in der Staatsgründung Israels nicht eine Erfüllung göttlicher Verheissungen, weil das Land nicht vom Messias regiert werde. Dabei enthält die Bibel eindeutige Aussagen über die Wiederherstellung Israels, besonders beim Propheten Hesekiel in den Kapiteln 11 und 37. Einige Ankündigungen sind bereits eingetreten, etwa die Rückkehr der Juden ins Heilige Land. Damit hat Gott den Nationen ein Beispiel für die Gültigkeit seines Heilsratschlusses gegeben: “Sie sollen erfahren, dass ich der Herr ihr Gott bin” (Hes. 28,25f.). Gott handelt, ohne zuvor die UNO oder die Arabische Liga um Erlaubnis zu bitten. Gottes Treue zu seinem Volk ist unabhängig von dessen Leistungen oder aktueller Einstellung zu Gott.


Die PLO will die Juden entfernen

Aus der Grundsatzentscheidung für eine unbedingte Solidarität mit Israel folgt nicht, pauschal mit allem einverstanden zu sein, was der Staat Israel heute tut. So verständlich es ist, dass Israel auf den massiven Terrorismus vor seiner Haustür mit Vergeltungsschlägen reagiert, so bedauerlich ist es, dass dabei auch Unschuldige verletzt oder getötet werden. Man muss aber bedenken, dass sich die palästinensischen Selbstmordattentäter ganz gezielt gegen Zivilisten wenden, um die Bevölkerung zu verunsichern und damit vorzubereiten, was ihr Führer Yassir Arafat am 23. Februar 1996 in der Tageszeitung “Jerusalem Post” sagte: “Sie werden ihre Siedlungen aufgeben und in die USA auswandern. Wir Palästinenser werden alles übernehmen, einschliesslich ganz Jerusalem ... Die PLO wird sich darauf konzentrieren, Israel psychologisch in zwei Lager zu spalten. Innerhalb von fünf Jahren werden wir sechs bis sieben Millionen Araber als Bewohner der Westbank und Jerusalems haben ... Ich habe keine Verwendung für Juden ...” (Victor Mordecai, Der Islam – eine globale Bedrohung? Hänssler-Verlag, S. 101). Wenn auch solche Äusserungen in unseren Medien einmal erschienen, wäre eine unbefangenere Haltung gegenüber den Vorgängen im Nahen Osten wesentlich einfacher. Christen fühlten sich nicht herausgefordert, ständig ihre Solidarität mit Israel zu betonen, sondern könnten sich stärker um einen Ausgleich zwischen den berechtigten Anliegen von Israelis und Palästinensern bemühen.

Gleichzeitig ist es für christliche Israelfreunde selbstverständlich, auch die Sorgen arabischer Christen ernst zu nehmen. Einer proarabischen Einseitigkeit, wie sie viele Kirchenleitungen praktizieren, muss jedoch energisch widersprochen werden. Es bleibt unverständlich, warum offizielle Kirchenvertreter oder der Weltkirchenrat immer nur Israel zur Rücksicht auf arabische Christen mahnen, ohne gleichzeitig die Verantwortung der Palästinensischen Autonomiebehörde für die Sicherheit der Christen zu nennen. Auch für die kirchlichen Organisationen gilt die Aufforderung des Propheten Jesaja “Tröstet, tröstet mit mir mein Volk” (rabbinische Lesart von Jes 40,1), worunter eindeutig Israel gemeint ist.

Datum: 12.04.2002
Quelle: idea Deutschland

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