Hugo Stamm

„Die Leute wollen sich auch im spirituellen Bereich ganz individuell massieren lassen“

Mit seinem Buch über die Leiden von Lea Saskia Laasner hat Hugo Stamm wieder auf gefährliche Sekten aufmerksam gemacht. Idea Spektrum hat mit dem Zürcher Sektenspezialisten ein Interview geführt; hier ein Auszug.
‚Mehr vereinnahmende Gruppen denn je’: Hugo Stamm im idea-Interview

idea: Ihr neues Buch „Allein gegen die Seelenfänger“ ist ein Bestseller. Haben Sie Ihre Mission damit erfüllt?
Hugo Stamm: Überhaupt nicht! Mir gehts nicht um Lebenswerk oder Erfolgsquoten, sondern um kontinuierliche Aufklärungsarbeit. Das ist insofern nötig, als sich etliche vereinnahmende Gruppen nach dem grossen Medienrummel vor ein paar Jahren besser tarnen oder sich angepasst haben.

Um diese Gruppen ist es ruhiger geworden. Das Buch von der Sektenaussteigerin Lea Saskia Laasner und mir hat das Thema wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Das ist für mich der wichtigste Effekt.

Fast hätte man meinen können, es gebe keine Sekten mehr.
Es gibt heute mehr vereinnahmende Gruppen denn je. Der Trend verläuft wie beim schrecklichen Wellness-Kult. Die Leute wollen sich auch im spirituellen Bereich ganz individuell massieren lassen.

Plötzlich sieht die halbe Schweiz im streng konservativen Papst einen glanzvollen Hoffnungsträger. Kein Fall für Sie?
Es gab einen Leserbrief, in dem die Frage gestellt wurde, ob die ganze Hysterie um den kranken Papst und die Neuwahl nicht ein Fall für Hugo Stamm wäre. Ich stehe dazu, dass ich in der katholischen Kirche sektenhafte Tendenzen sehe. Doch diese Kirche hat auch gewisse demokratische Strukturen, und man kann sie jederzeit verlassen, ohne Repressionen befürchten zu müssen.

Der biblisch-konservative Katholizismus im Aufschwung – macht Ihnen das Sorge?
Ja, doch ich glaube nicht, dass in erster Linie die Gläubigen diese Entwicklung suchen. Es ist der überalterte Klerus, der aus seiner konservativen Haltung heraus einen Machtanspruch entwickelt.

Viele evangelische Jugendbewegungen befinden sich genauso auf einem biblisch-konservativen Kurs.
Das beobachte ich auch, doch da ist nicht zuerst eine biblisch-konservative Grundhaltung das Magnet, sondern die jugendgerechte Form des Angebotes. Gottesdienste werden zu Happenings, zu Events. Jugendliche suchen Geborgenheit und lassen sich darum in eine Gruppe einbinden. Sie hoffen da ihre Identität zu finden.

Nur das Happening ist entscheidend, nicht die Botschaft?
Ich muss gestehen, dass ich grosse Zweifel habe, ob echte Glaubensinhalte stark zum Erfolg dieser Jugendkirchen beitragen. Jugendliche lassen sich gerne von schöner Stimmung erwärmen. Das führt vielleicht dazu, dass sie Jesus plötzlich als Vorbild sehen und dann einzelne Glaubensinhalte mitnehmen, wobei da auch suggestive Momente eine Rolle spielen. Ob sich dieser Glaube dann im Alltag bewährt?

Was bewundern Sie an evangelikalen Gläubigen?
Ohne Zweifel das grosse Engagement und die Überzeugung, mit der sie versuchen, ihren Glauben in allen Bereichen zu leben. Doch ich sehe auch die Gefahren. Man kann nicht permanent mit der Bergpredigt vor den Augen durch die Welt gehen, sonst wird man zum Eiferer. Ich habe nichts einzuwenden, wenn man nach biblischen Massstäben leben will. Aber ich kämpfe dagegen, dass man die Welt nur noch nach biblisch-fundamentalistischem Massstab beurteilt und andere Menschen damit terrorisiert. Die meisten politischen und sozialen Konflikte dieser Welt wurden durch religiöse Eiferer mitgeprägt.


Hat sich die evangelikale Szene in den letzten Jahren verändert?

Sie ist ohne Zweifel viel offener geworden. Der Dialog ist einfacher geworden. Da hat ein Lernprozess stattgefunden. Das anerkenne ich.

Ein Lernprozess auch bei Hugo Stamm?
Ich bin ein sehr diskussionfreudiger Mensch, der geistige Auseinandersetzungen schätzt. Das ist das Salz des Lebens. Mich interessiert, was freikirchliche Kreise bewegt. Wenn ich dort einen Gottesdienst besuche, diskutiere ich danach endlos. Ich korrigiere mein Bild immer wieder. Ich bin heute auch einiges milder im Urteil.

Datum: 13.05.2005
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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