Die Frühgeschichte des Eidgenössischen Dank-, Buss und Bettags gibt zu denken, in mehr als einer Hinsicht. Der Artikel zum 200-Jahr-Jubiläum, 1996 vom Thurgauer Pfarrer und Publizist Christoph Möhl für die Zeitschrift ‚Leben und Glauben‘ verfasst, führt von der Geschichte des Bettags zu aktuellen Fragen. „Der Bettag hat seine gesellschaftliche Bedeutung eingebüsst.“ Mit dieser Feststellung löste Pfarrer Fritz Gloor aus Stansstaad vor zwei Jahren eine kleine Aufregung aus. Dabei hatte er nur vorschlagen wollen, darüber nachzudenken, wie das ursprüngliche Anliegen des Bettages in der heutigen Zeit neu aufgenommen werden könnte. Es wäre, folgte man seinem Rat, nicht das erste Mal, dass der Bettag eine andere Bedeutung bekäme. Einmal gab es die Zeit der konfessionell gespaltenen Schweiz. Da wurden Dank- oder Bussgottesdienste durchgeführt, als wären es Fussball-Fanveranstaltungen. Während des 30jährigen Krieges fieberten die Konfessionen in der Schweiz mit ihren Glaubensgenossen: Wenn die Protestanten unter dem Schwedenkönig Gustav Adolf gesiegt hatten, jubilierten die Reformierten in den Kirchen, wurde er geschlagen, dankten die Katholiken dem Allmächtigen. Hin- und hergerissen vom Kriegsglück der Glaubensgenossen, frohlockte oder wehklagte man hüben und drüben. Als die Schweiz im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts spürte, dass die Revolution auch auf ihr Gebiet überschwappen könnte, wurde - in einer politischen Notlage also - ein erster überkonfessioneller Bettag angeordnet. Bern brachte den Gedanken ins Gespräch: Es legte Zürich, dem Vorort, im Februar 1794 nahe, dass «in Anbetracht der bedrohten Lage des Vaterlandes und des grossen Fortschrittes des Unglaubens der für Bern auf Sonntag, den 16. März, angeordnete Bettag nicht nur in den evangelischen Orten mitgefeiert werden möchte, sondern unsere katholischen Brüder, die sich mit uns in einer Lage befinden, gleiche Guttaten von dem Allerhöchsten genossen und gleichen Gefahren ausgestellt sind, sich auch hierin mit uns vereinigen und gemeinsam mit uns ein ausserordentliches Fest feiern». So kam es, dass 1794 bis 1796 im Frühjahr ausserordentliche, den Zeitumständen angepasste und als einmalig angesehene erste gesamteidgenössische Bettage stattfanden. Die Reformierten hielten aber für sich allein in diesen Jahren an der Übung fest, im September einen Dank-, Buss- und Bettag durchzuführen. Doch an der Juli-Tagsatzung in Frauenfeld wurde dann 1796 beschlossen, am 8. September, einem Donnerstag, in der ganzen Eidgenossenschaft einen Bettag zu feiern. Dieser kann als der erste betrachtet werden, der die heute 200jährige Tradition eröffnete. Es ist bezeichnend, dass der erste gesamteidgenössische Bettag aus der Angst geboren wurde. Die «Gnädigen Herren» waren bis zuletzt taub gewesen für alle Hinweise auf Missstände: Man hoffte, die feudalen Strukturen und die alten Vorrechte aufrechterhalten zu können. W. Hadorn, Anfang dieses Jahrhunderts Pfarrer am Berner Münster, schreibt in seiner «Geschichte des Bettages» (aus Berner Sicht): «Wer die Geschichte unseres Volkes im 18. Jahrhundert kennt, der begreift, dass auch diese Mittel trotz der krampfhaften Anstrengung der Regierung zu schwach waren, das kommende Verderben aufzuhalten ... Es war zu spät. .. Auch das Mittel der ausserordentlichen Buss und Bettage versagte. Das Gericht brach herein.» Rosa Schaufelberger, die 1920 mit einer Arbeit über die Geschichte des Bettages doktoriert hat, schreibt: «Die grosse Unsicherheit, das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen, die ungewisse Zukunft, erreichten, dass das Staatsbewusstsein über das Konfessionelle hoch hinausschwang und die Regierungen der eidgenössischen Stände sich einander näherten. Die Situation war reif für den eidgenössischen Bettag.» Es ist jedenfalls bezeichnend und prägte den Bettag im Bewusstsein der Schweizer wohl mehr als seine übrige Vorgeschichte, dass er in der Zeit des Untergangs der alten Eidgenossenschaft entstanden ist und seine Ausprägung vor allem durch die revolutionäre Regierung erhalten hat und nicht so sehr durch die Bibel und die kirchliche Tradition. Die Indifferenz und die aufkommende Toleranz hatten in ganz Europa die konfessionellen Gegensätze verblassen lassen. Aufklärerisches Gedankengut ermöglichte nicht nur ein anderes Verhältnis zwischen den Konfessionen, sondern bereitete auch in der Schweiz den Boden für die Revolution. Die neuen Herren nahmen sich des Bettages genussvoll an und hielten an ihm als nationalem Feiertag fest. Allerdings waren sie in ihrer antikirchlichen Haltung bestrebt, ihm eher einen weltlichen als einen religiösen Gehalt zu geben (vergleiche den Aufruf von Kulturminister Stapfer, einem ehemaligen Theologieprofessor). Jesus wurde in den nachrevolutionären Bettagsmandaten zum Garanten der Revolutionsanliegen «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» und der Bettag zum Anlass, die «Bereitwilligkeit, die Befehle der Regierung zu erfüllen», zu stärken. Es wurde 1798 aufgerufen, den Bettag zu begehen «als einen Tag, gewidmet der frommen Andacht und ernsthaften Betrachtungen über den sittlichen Zustand des Volks, und über die Nothwendigkeit der Tugend zur Erhaltung und Beglükung der menschlichen Gesellschaft». Die Festsetzung des Bettages auf September gehört zu den letzten Beschlüssen der Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft und zu den wenigen, die die Revolution überlebt haben. Die Geistlichkeit, vorab die katholische, fand kaum Gefallen an dieser Umfunktionierung des Bettages. Jedenfalls wurde dieser nationalrevolutionäre Feiertag für die Vorsehung und das Vaterland 1799 nicht überall eingehalten, und der Fürstabt von St. Gallen setzte sogar einen alternativen Bettag auf den 2. Juni 1799 an, an dem man «für Kaiser Franz II. und Erzherzog Karl» beten sollte. Damit künden sich Schwierigkeiten an. Die katholischen Kantone feiern schliesslich den jährlichen Bettag an einem Sonntag im September und die reformierten unter der Woche (um den 8. September). Diese Spaltung widerspiegelt das tiefe Misstrauen zwischen konservativen (katholischen) und liberalen (reformierten) Kräften. Die grösste Gefährdung eines gemeinsamen Bettages, der 1832 auf den dritten Sonntag im Herbstmonat festgelegt worden war, bestand denn auch im Sonderbundskrieg. Doch die Liberalen siegten, auch im Blick auf den Bettag. Dieser wurde von ihnen vereinnahmt als Fest, das dem Volk Tugendhaftigkeit und Regierungstreue eintrichtern sollte. Die Bettagsmandate aus der Feder liberaler Regierungskanzleien seien „farblos und gedankenarm“ gewesen, schreibt Rosa Schaufelberger, die sich in den zwanziger Jahren mit dem Bettag beschäftigt hat. Dies sei so gekommen, «weil die Veranstalter des Bettages vielfach der Kirche innerlich entfremdet waren, dem religiösen Leben des Volkes nicht gebührend Interesse und Verständnis entgegenbrachten und daher nicht immer die richtige Sprache fanden». Schwulstig und schulmeisterlich tönen die Mandate des 19. Jahrhunderts, unerträglich für unsere Ohren auch die Predigten und Mandate aus der Zeit der beiden Weltkriege. Fritz Gloor, der vor zwei Jahren anregte, über die Bedeutung des Bettages in unserer Zeit nachzudenken, verdient weiterhin Unterstützung. Der Bettag gilt als kirchlicher Feiertag, wurde aber eigentlich immer als staatlicher, eidgenössischer aufgefasst. Was wird seine Zukunft sein? Ein Bettagsmandat, verfasst von Philipp Albert Stapfer, in der Helvetischen Republik (1798-1803) Minister der Künste und Wissenschaften, zeigt, wie der Bettag vor 200 Jahren unter den Vorzeichen der christlich-humanistischen Aufklärung gesehen wurde. Das Mandat erging aus der damaligen Hauptstadt Aarau an den Bürger Pfenninger, Regierungsstatthalter des Kantons Zürich. Die Zeit nahet heran, wo die Bewohner Helvetiens ein Religions-Fest gemeinschaftlich feyerten, einen Tag des Gebets und der Danksagung, einen Tag, gewidmet dem religiösen Nachdenken über den sittlichen Zustand der Nation. (...) In seiner ursprünglichen Reinheit ist das Christenthum das wirksamste Mittel, das Gewissen zu schärfen, die Menschen zum Gefühl ihrer Würde zu erheben, die Selbstsucht zu bekämpfen und alle Tugenden zu entwickeln, welche die Zierde der menschlichen Natur, und ohne die keine wahrhaft republikanischen Gesinnungen möglich sind. Das Christenthum ist allem feind, was schlecht und niedrig ist: es lehrt den Eigennutz dem gemeinen Wohl, die Regungen der Leidenschaften den Gebotten der Vernunft, das Vergnügen der Pflicht, und alles dem Gewissen aufopfern. Es gewöhnt seine Verehrer, ihr Glück nur in dem Wohl Anderer zu suchen, und hält ihnen beständig eine moralische Welt, ein unsichtbares Reich vor, zu dessen Absichten diese Sinnenwelt nur Mittel ist, wo die Gerechtigkeit das höchste Gesez, Heiligkeit der lezte Zwek, und woraus alle Willkür verbannt ist. (...) Wer könnte es vergessen, dass das Christenthum durch die Lehre von der Gleichheit der Pflichten, den Triumph der Gleichheit der Rechte vorbereitete? In seinen Tempeln fand diese Gleichheit unter der Regierung willkührlicher Machthaber eine Zuflucht. Seine Sittenlehre ist es, die die Thronen gestürzt und erschüttert, die Zernichtung aller auusschliessenden, und die freie Entwiklung der Menschenkräfte hemmenden Vorrechte herbeygeführt oder beschleunigt hat; sie ist es, der wir die Abschaffung der Sklaverey verdanken, sie wird unser Geschlecht verdeln; sie soll die Religion des Republikaners seyn... Autor: Christoph Möhl
Gnädiger Herren Angst
‚Das Gericht brach herein‘
Wege der Vorsehung mit dem Vaterland
Nationaler oder kirchlicher Bettag?
Der „wohlthätige Einfluss dieser Religion“:
Das Christentum „in seiner ursprünglichen Reinheit“ als Grundlage der Helvetischen Republik Bürger Statthalter!
Quelle: Leben und Glauben
Datum: 10.09.2003