«In diesem Jahr haben wir eine gute Ernte», ist Ato Demelash überzeugt. Aus Sicherheitsgründen wird jedoch der richtige Name des einheimischen, christlichen Entwicklungshelfers nicht genannt. Denn was er zu sagen hat, gefällt nicht allen. „Ato Demelash“ gehört zum Stamm der Amhare. Sein Nachname ist typisch für diese grosse äthiopische Volksgruppe. In einzelnen Gegenden könne es mit der Versorgung eng werden, räumt Ato Demelash ein. Aus dem Norden seien beispielsweise Menschen in den zentralen Teil von Äthiopien gekommen. Ato Demelash: «Sie sagten mir, dass sie wegen des Hungers in ihrer Gegend gekommen sind. Das glaube ich ihnen nicht. Die Regierung arbeitet dort hart. Und man hört, dass die Ernte gut ist. Diese Menschen wurden einfach umgesiedelt, um das Problem zu verkleinern.» «Die Hilfe der Weltgemeinschaft hat unser Land in eine Abhängigkeit geführt», erklärt Ato Demelash. «Die Hilfe hat nun einen schlechten Einfluss. Aber ich gebe zu, wir haben keine Garantie, dass die Ernten immer gut ausfallen.» Eine Katastrophe könne jederzeit passieren. «Es gibt solche Fälle, zum Beispiel, wenn die Regenzeit zu kurz ist.» Trotzdem führe dies das Land in eine Abhängigkeit. Man zeige auf die Probleme «und schreit und unternimmt nicht die nötigen Anstrengungen, um selber genug zu produzieren. China machte das seinerzeit. Viele starben zwar, aber sorry, wenn ich das so sage: Sie haben ihre Lage verändert. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Denn bei uns schreit man Jahr für Jahr um Hilfe. Wir haben uns einen Ruf als Bettler eingehandelt. Das ist schlecht für den Fortschritt des ganzen Landes. Der Staat sollte das stoppen und sich eine andere Strategie ausdenken.» Wer selber anbaue und produziere, der habe für ein oder zwei Jahre genug. «Aber die Regierung sorgt nicht für eine gerechtere Verteilung. Und wer kein Land hat, kann nicht produzieren. Sie werden Opfer des Hungers. Dabei wird doch genug geerntet.» Gleichwie Ato Demelash arbeitet Ato Dechassa für ein christliches Hilfswerk, das sich für die Armen und Benachteiligten Äthiopiens einsetzt. Ato Dechassa ist ebenfalls nicht sein richtiger Name – aber in Äthiopien ein typischer für Menschen vom grossen Oromo-Stamm. Mit Regenzeit und Ernte des Jahres 2005 zeigt er sich zufrieden. «Die Bauern arbeiteten gut. Früher hungerten 14 Millionen Menschen, dann 7 und heute etwa 2 Millionen. Aber die Regierung verteilt Nahrung, und heuer haben wir soweit genug.» Über das «Productive Safety Net Programm» lässt die Regierung die Vorräte anlegen und bei Bedarf verteilen. Fünf Millionen Menschen würden davon profitieren, die ihre eigenen Bedürfnisse nicht decken könnten. Auch der Frieden wirke sich positiv auf das Land aus. «Aber wenn wir hier hart arbeiten und dass Wasser gut nutzen, werden wir künftig auch dünne Regenzeiten gut überstehen.» Aufgrund des Krieges in Darfur (Westsudan) flüchten Tausende ins Nachbarland. «Wir teilen das Essen mit ihnen, auch wenn die Nahrung knapp wird.» Abertausende strömen auch aus dem seit 15 Jahren regierungslosen Somalia nach Äthiopien. «Wir teilen auch mit ihnen.» Gleich wie mit den Flüchtlingen aus Eritrea. «Wenn wir zu wenig haben, dann leiden alle.» In Äthiopien leben rund 100'000 Flüchtlinge, die auch vom UNHCR unterstützt werden. Über die Emergency Food Security Reserve Administration, kurz: EFSRA, legt die Regierung Reserven an. Damit will man bei Hunger schneller reagieren können. So muss nicht mehr Monate auf Hilfe gewartet werden. Ato Dechassa: «Wenn in diesem Jahr eine Not kommt, kann aus diesen Lagern verteilt werden. So stirbt niemand. Das ist ein gutes System.» Besser fände er, «wenn wir unabhängig wären. Wenn die Leute ständig Hilfe kriegen, werden sie nur träge.» Für die geleistete Hilfe in den Katastrophenzeiten sei man aber dankbar. Äthiopien, so Ato Dechassa, sei die Kornkammer des Mittleren Ostens gewesen. «Wir wurden „der Brotkorb Afrikas“ genannt.» Bei harter Arbeit, so ist er überzeugt, könnte sein Land sogar Nahrungsmittel exportieren. «Wir haben das Potential dazu.» Intensive Waldnutzung und wenig Regen schaden aber dem Land. Doch «wenn wir Bäume pflanzen und mit den Ressourcen gut umgehen, können wir sogar Nahrungsmittel exportieren!» Ato Dechassa: «Wenn wir das Wasser speichern würden, könnten wir sogar ausserhalb der Regenzeit ernten.» Mittlerweile führt eine breite Autobahn gleich in der Nähe der Schweizer Botschaft in den Westen Äthiopiens. Früher war hier ganz in der Nähe der Flughafen von Addis Abeba. Er hat sich in der Botschaftsadresse erhalten: «Old Airport» .... Hier wird Livenet.ch von Konsul Urs V. Strausak empfangen. Die Hungerprobleme in Äthiopien haben sich in den letzten Jahren verbessert abgenommen, sagt der Mann, der die Schweiz in der «diplomatischen Hauptstadt Afrikas» vertritt. Im Jahr 2003 bat Äthiopien international um Hilfe, weil man eine Katastrophe befürchtete. Doch die blieb aus. Strausak spricht von einer heiklen Situation: «Es hätte auch anders kommen können. Das Land wollte nicht überrascht werden.» Man wisse nicht, ob die Regenzeit gut oder schlecht verlaufe. Wenn sie schlecht wird, seien manche Landesteile nur schwer zu erreichen, und die nötige Hilfe könne nicht geleistet werden. Darum komme es schon mal zu präventiven Hilferufen. Ein Jahr später, so Strausak, sei die Ernte um 25 Prozent besser gewesen als im Vorjahr. «Das lässt darauf schliessen, dass sich das Land selber ernähren könnte.» Diese Verbesserung zeichnet sich immerhin seit bereits 20 Jahren ab. «Aus meiner Sicht ist die OCHA eine äusserst interessante Organisation», meint Strausak. «Sie führt eigene Recherchen durch, ohne dass sie selbst Hungerhilfe leistet.» Sie erkunden die Bedürfnisse; andere erfüllen sie. Auch die Schweiz leistet einen Beitrag und bezahlt eine Arbeitsstelle. Dass die Nahrungshilfe auch eine Abhängigkeit von den Geberländern geschaffen habe, das sei «nicht von der Hand zu weisen», gesteht Strausak. Probleme bereiten nicht nur die langsamen Reformen sondern auch Äthiopiens Bevölkerungswachstum. Bis zum Jahr 2030 sei mit fast einer Verdoppelung der Einwohnerzahl zu rechnen. Lesen Sie auch das Interview zu Äthiopien:«In die Abhängigkeit geführt»
Die Ernten würden ausreichen
Jetzt flüchtet man nach Äthiopien
Hungerhilfe kommt in Nahrungsmittellager
«Das sollte den Leuten in die Köpfe!»
«Es hätte auch anders kommen können»
«Abhängigkeit nicht von der Hand zu weisen»
„Wenn man Fernsehbilder von ausgemergelten Kindern sieht ist es zu spät“
Datum: 12.08.2006
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch