Eine Französin, deren Eltern aus der Kabylei (in Algerien) stammen, bewirbt sich seit einiger Zeit um eine Stelle. Meistens erhält sie keine Antworten auf ihre Bewerbungen, manchmal kriegt sie schriftliche Absagen, unter anderm auch von einem Supermarkt, der sich ganz in ihrer Nähe befindet. Da sie jedoch weiss, dass dort Stellen offen sind, versucht sie es ein zweites Mal, jetzt mit der Adresse des Bruders, der in einem besseren Quartier wohnt. Nun erhält sie positiven Bericht, sie kann sich vorstellen und wird auch eingestellt. Dies zeigt: Die Adresse dient den Geschäften dazu, die Bewerber zu sieben. Wenn man in einem "Quartier sensible" wohnt, hat man bei der grossen Arbeitslosigkeit keine Chance. Wie die NZZ schreibt, sind „die Vorstädte räumlich, kulturell-ethnisch und auch wirtschaftlich-sozial klar abgegrenzt“ von den besser gestellten städtischen und ländlichen Regionen“. Und dies seit Jahrzehnten. Die französische Öffentlichkeit verdränge diese Tatsache nach Zeiten der Unruhe so gut wie möglich. In den Konfliktzonen liegt die Arbeitslosigkeit unter jungen Männern und Frauen gegen 40 Prozent, mancherorts gar darüber. Wie das Beispiel zeigt: „Ein nicht immer nur unterschwelliger Rassismus und ethnische Diskriminierung sind der französischen Gesellschaft nicht fremd.“ Frankreich sucht in seiner Wirtschaftspolitik die gewachsenen Strukturen zu sichern, was Neuankömmlinge benachteiligt. Der Arbeitsmarkt schützt jene, die Arbeit haben, vor jenen, die Arbeit suchen. Gewerkschaften und Politiker wollen vor allem die Zukunft der aktuell Erwerbstätigen sichern, was es schwerer macht, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Senegalesin, deren Familienname französisch tönt, hat zwei Vornamen: Denise und Fatima. Solange sie sich mit Fatima bewirbt, erhält sie keine Antwort. Sobald sie sich mit Denise bewirbt, wird sie öfters von den Geschäften kontaktiert. Auch Studenten mit arabischen Vornamen haben grosse Mühe, Arbeit zu finden. Beinahe jeder Nordafrikaner könnte diverse solche Beispiele erzählen. Claude Bébéar, der Aufsichtsratspräsident des Versicherungskonzerns Axa, klagt, der Staat habe jahrzehntelang viel Geld in die falsche Integrationsmaschine gestopft. Das von Bébéar geleitete Institut hat 2004 in einer „Charta der Unterschiedlichkeit“ die Unternehmen herausgefordert, mehr für die Jugendlichen zu tun. Zudem schlägt der Wirtschaftsführer einen «anonymen Lebenslauf» vor, bei dem vor der Beurteilung Namen und Adressen von Stellenbewerbern entfernt werden. Bei der Wohnungssuche treffen Einwanderer ähnliche Probleme an. Es ist sehr schwierig für jemanden mit einem nordafrikanischen Namen, eine Wohnung in einem besseren Quartier zu finden. Dabei wäre doch genau dies zu unterstützen: dass Maghrebiner aus dem Ghetto des Immigrantenviertels ausziehen und sich besser in die französische Gesellschaft integrieren. Denn zurück kann Frankreich nicht, wie der in Pariser Vorstädten aktive Schriftsteller François Bon erläutert: „Die massive Importierung in den siebziger Jahren von Familien, ja ganzen Dörfern aus Marokko und aus Algerien, welche gebraucht wurden, um die Citroën-Fabrik in Aulnay und die Renault-Fabrik in Flins zu betreiben, ist irreversibel.“ Bon, der mit Immigranten Schreibworkshops durchführt, verweist auf Massnahmen, die in den letzten Jahren in der Banlieue ergriffen wurden, um die soziale Durchmischung zu verbessern. „Wenn man Vorstädte durch öffentliche Verkehrsmittel mit dem Stadtzentrum verbindet, wenn man der Verwaltung von Sozialwohnungskomplexen verbindlich aufträgt, neben Familien auch Studenten zu akzeptieren, kann sehr vieles ändern.“ Doch wird erzählt, dass auch die Polizei aufgrund der Hautfarbe Unterschiede macht. Jugendliche Zuschauer einer Schlägerei, bei der jemand zu Schaden kommt, werden festgenommen wegen "non-assistance à personne en danger". Einer der Jugendlichen kriegt für diese Anklage einen Monat Gefängnis (er ist Maghrebiner), ein anderer eine Geldbusse (er ist weisser Franzose). Die Familie des Maghrebiners sagt, dass die Beiden sich gleich verhielten. So erleben die Einwanderer und ihre Kinder die Justiz und den französischen Staat als rassistisch. Auch wenn sie nicht vergessen, dass es ihnen materiell viel besser geht als ihren Landsleuten in Afrika. Die Beobachter sind sich weitgehend einig darin, dass die Krawalle nicht durch islamistische Hetze angefacht wurden. Einige Rechtspolitiker gehen gleichwohl davon aus, und der Rektor der Pariser Moschee Dalil Boubakeur liess Worte fallen, wonach Hintermänner die Unruhen für ihre Ziele einspannen wollten. Die radikale Islam-Organisation Union des organisations islamiques en France (UOIF) hat den praktizierenden Muslimen in Form einer Fatwa, eines Rechtsgutachtens, einfach verboten, sich an den Unruhen zu beteiligen. Doch die Jugendlichen hören nicht einmal auf die «grands frères», die jungen Erwachsenen, die zuerst zu vermitteln versuchten. Häufig stellten die jungen Muslim-Aktivisten fest, dass eine tiefe Kluft sie von diesen Jugendlichen trenne, berichtet der Politikwissenschafter Franck Frégosi laut der NZZ. Die Kapuzentäter foutierten sich um Islam, Moschee und ihre Tradition und seien viel mehr von der Hip-Hop-Kultur und ihrem Medienkonsum beeinflusst als von islamischen Werten. Laut Frégosi profitieren aber die radikal-islamischen Gruppen von solchen Ereignissen und von einer Verschlechterung der Lage in den Vorstädten. Die bedeutenden islamischen Organisationen und Dachverbände in Frankreich haben die Gewalt in den Vorstädten verurteilt. Die Fatwa der UOIF wurde allerdings heftig kritisiert, da sie die Gewalt auf unzulässige Weise mit dem Islam in Verbindung gebracht habe. Derzeit wird diskutiert, ob der Staat islamische Organisationen vermehrt einbeziehen sollte, um die Vorstädte einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Das gewalttätige Aufbegehren der Jugendlichen stellt Frankreich in Frage. Der gemeinsame Nenner, auf den sich die Mehrheitsbevölkerung verständigt hat – individuelles Wohlleben und Freiheit –, wird durch die anhaltende Verletzung des Grundwerts der Gleichheit ausgehöhlt. Und von Brüderlichkeit (dem dritten Schlüsselwort der Französischen Revolution) ist im amtlichen Frankreich derzeit nichts zu spüren – was es für die praktizierenden Christen, in der säkularen Gesellschaft eine kleine Minderheit, nicht leichter macht. Weiterer Livenet-Artikel zum Malaise in Frankreichs Vorstädten„Savoir vivre“ – und verdrängen
Idee: Anonymer Lebenslauf
Sie wandern nicht zurück
Da und dort greifen Massnahmen
Keine Egalité von Weiss und Schwarz
Weder die islamischen Gelehrten…
…noch die ‚grand frères’ können sie stoppen
Mehr Aufgaben für islamische Organisationen?
Was gelten die Grundwerte des Staates?
www.livenet.ch/www/index.php/D/article/187/27633/
Datum: 15.11.2005
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch