In der Bibel wird das Gebiet des heutigen Irak “Zweistromland” genannt. Eine Region, wo der Garten Eden, das Paradies, gewesen sein soll. Aus Ur in Chaldäa stammt Abraham. Und an den Ufern von Euphrat und Tigris sassen um 600 v. Chr. die verbannten Juden und träumten von der Rückkehr nach Jerusalem. Der Legende nach sollen ausserdem die Heiligen Drei Könige aus dem Nordirak stammen. Neun von zehn irakischen Christen sind Assyrer, Aramäer oder Armenier und sprechen noch immer die Sprache, die auch Jesus benutzte. Heute sind rund 90% der Irakis Moslems. Trotzdem wird das Land im Gegensatz zu anderen nicht islamisch regiert. Das blutige Regime des Diktators Saddam Hussein hat vielmehr ein seltsam pragmatisches Interesse an Religion. Seine Baath-Partei, die 1958 mit einem Militärputsch die Monarchie beendete, war ursprünglich eine antireligiöse, nationalistisch-panarabische Partei. Ihre Ideologie ist mit Versatzstücken aus Faschismus und Bolschewismus garniert. Propagiert wird die Wiedergeburt (Baath) der arabischen Kultur und ihre Überlegenheit. Ihr Gründer war ein orthodoxer Christ, Michel Aflaq, der einen arabischen Grossstaat wollte. Dieser sollte nicht auf dem Islam fussen, sondern auf der arabischen Sprache und Rasse. Die Baath-Partei wollte sich in keine religiösen Angelegenheiten einmischen. Deshalb findet man im Irak – im Unterschied zu Saudi-Arabien – keine Religionspolizei, die in Privathäusern schnüffelt, ob auf die richtige, islamische Art gebetet wird. Anders als im Iran gibt es auch keine Revolutionsgarden, die mit Schlägen dafür sorgen, dass Frauen ihre Schleier ordnungsgemäss tragen. Die laxe Überwachung, ja das Desinteresse an der öffentlichen Einhaltung des islamischen Gesetzes, der Scharia, hat dazu geführt, dass die Reichen und Schönen der Golfstaaten gerne in Bagdad Wochenende und Urlaub verbringen. Hier dürfen sie ohne Angst Alkohol geniessen und mit Frauen flirten. Vergehen, für die sie in ihrer Heimat Prügelstrafen oder Schlimmeres zu erwarten hätten. Saddam Hussein will bedingungslosen Gehorsam ihm gegenüber und nicht zu Allah. Deshalb ist er in den Augen orthodoxer Moslems ein Abgefallener, der eigentlich den Tod verdient. Christen verbanden mit der Partei in den Anfangsjahren Hoffnungen. Sie vertrauten der Zusage, als vollwertige Araber behandelt zu werden, ohne Moslems werden zu müssen. Dass Saddam Hussein angesichts der Kriegsdrohungen der USA inzwischen die islamische Karte spielt - der “Polit-Gangster grossen Stils” (Scholl- Latour) gibt sich als frommer Moslem, der täglich seine religiösen Pflichten verrichtet – jagt Christen noch keine Angst ein. Dass das Regime den Schriftzug “Allahu Akhbar (Gott ist gross) in die irakische Flagge einfügte und Koranschulen generös finanziert, findet bei den meisten Christen Verständnis. Sie sehen in der Saddam-Diktatur im Vergleich mit Saudi-Arabien, dem Iran oder den Golfstaaten noch immer das kleinere Übel. Während in Saudi-Arabien auf den Besitz der Bibel die Todesstrafe steht, können im Irak Kirchen renoviert werden. Gottesdienste verlaufen ohne Störungen, der Muslim Saddam schenkt den Kirchen Grundbesitz. Saddam Husseins Regime gelingt es dabei immer wieder, die Religionen gegeneinander auszuspielen, um dadurch die eigene Herrschaft besser zu sichern. Dabei kann er es in puncto Terrormethoden und Menschenverachtung durchaus mit den grossen totalitären Bewegungen des letzten Jahrhunderts - Nationalsozialismus und Bolschewismus - aufnehmen. In den Städten schaut ein Saddam-Porträt von allen Plätzen und Hauswänden auf einen herab: zu Pferd, im Wagen, beim Gebet, mit Kindern, mit Gewehr und Tirolerhut. Aber auch Kirchen gehören zum öffentlichen Erscheinungsbild. Kreuz, arabische Bibelverse oder traditionelle christliche Symbole lassen manche Gebäude weithin als christliche Versammlungsstätten erkennen. Nahezu jede Konfession hat in Bagdad ein eigenes Kirchengebäude: die traditionellen Altorientalen wie die Syrisch-Orthodoxe Kirche, die mit der katholischen Kirche unierten Chaldäer, die assyrischen Orthodoxen, die assyrischen Protestanten, Anglikaner und Presbyterianer (Reformierte). Dennoch kann man nicht von Religionsfreiheit sprechen, wenn über das Christsein im Irak berichtet wird. “Unsere Freiheit besteht nur innerhalb der Mauern der Kirchengebäude”, sagt ein katholischer Geistlicher. Grössere Versammlungen ausserhalb des Kirchengeländes sind verboten. Ein evangelischer Ältester erklärt: “Nur so lange wir uns politisch nicht oppositionell betätigen, lässt man uns unsere Religion frei ausüben.” Mission unter Moslems ist streng verboten. Ausschlaggebend sind rein praktische Motive. Das Regime fürchtet, dass die Erlaubnis zum Religionswechsel auf massive Proteste der moslemischen Mehrheit stösst. Unruhen sollen aber unter allen Umständen vermieden werden. Christen sind aber nicht nur religiös, sondern auch ethnisch eine Minderheit. Die meisten sind weder Araber oder Kurden, sondern Assyrer, Aramäer oder Armenier. Seit 1968 “verschwanden” zahlreiche assyrische Intellektuelle, Dutzende wurden hingerichtet, 150 Klöster und Kirchen zerstört, ganze Einwohnerschaften in sogenannte “Modelldörfer” (bessere Internierungslager) umgesiedelt. Dieses grausame Schicksal erfuhr ihnen nicht in erster Linie als Christen, sondern in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer als gefährlich eingestuften ethnischen Minderheit. Die Geschichte der Evangelischen im Irak ist neueren Datums und beginnt nach dem Ersten Weltkrieg, um 1920. Aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches erhielten die Briten den Irak als Mandatsgebiet. Mit ihnen kamen die ersten Missionare: Anglikaner, Methodisten und schottische Presbyterianer. In den 60er und 70er Jahren gab es auch die Chance für zaghafte Gründungen von evangelikal ausgerichteten Hausgemeinden. Schätzungen sprechen von etwa 4.000 Evangelikalen, die sich ausschliesslich in den Grossstädten in Hausgemeinden organisieren. Insgesamt gibt es etwa 13.000 Protestanten im Irak. Die Hälfte davon gehört zu den traditionellen Denominationen: Anglikanern oder Presbyterianern. Die andere Hälfte zählt sich zu den Evangelikalen, einschliesslich der Pfingstkirchen. Sie sind, da sie als angelsächsische Ableger gelten, am gefährdetsten. “Als Pfarrer bin ich in der Öffentlichkeit erkennbar”, erzählt ein evangelischer Pastor. “Im Gewühl der Basare zischt schon mal einer ‚Yankeeschwein’, obwohl ich Araber bin.” Unter den seit zwölf Jahren anhaltenden UN-Sanktionen leiden auch die christlichen Iraker. Hunger, Arbeitslosigkeit und Krankheiten haben die einst wohlhabenden Christen oft in Armut und Elend gestürzt. Die meisten christlichen Familien könnten ohne die Armenspeisung ihrer Kirchen nicht überleben. “Trotz der monatlichen Fleischlieferung der Armenischen Kirche durchwühle ich den Müll, wie die meisten in der Stadt”, klagt ein Familienvater, der früher als Goldschmied zu den Begüterten gehörte. Kein Wunder, dass nach 1991 eine Fluchtwelle einsetzte, die dazu führte, dass der Anteil der christlichen Bevölkerung von einst zehn auf unter drei Prozent gefallen ist. Auf ihrer Asylsuche vertrauen sich viele Christen skrupellosen Schleusern an, um irgendwie aus dem Irak herauszukommen. Den etwa 500.000 im Land verbliebenen Christen schlägt aus der muslimischen Bevölkerung Hass entgegen. Sie gelten als fünfte Kolonne Washingtons. Je mehr Bomben von oben auf irakische Städte fallen werden, desto grösser wird der Hass gegen die Christen am Boden werden. In einer aufgeheizten Stimmung fallen Pogromaufrufe gern auf fruchtbaren Boden. Es kommt schon jetzt zu Übergriffen von “privater” Seite. Gerade in ländlichen Gegenden werden Christen und deren Eigentum schnell zum Opfer fanatischer Muslime. Der irakische Vizepremier, Tariq Aziz, ist ein chaldäischer (katholischer) Christ. Er vertrat das Land in vielen Auslandsmissionen. In einem System, in dem Clan- und Gruppenloyalität der Schlüssel zu Erfolg und Beförderung sind, kann ein Christ in Führungsposition ein Segen sein. Wie im Mafia-Klientelsystem hält Aziz seine Hand schützend über “seine” Chaldäer. Viele Christen dienen auch als Offiziere in den Streitkräften. Ob diese Christen sich einfach nur an Römer 13 (jeder Christ sei der Obrigkeit untertan) halten oder unter Gewissensqualen ihren Dienst versehen, bleibt offen. Generell fällt auf, dass die Christen im irakischen Kernland den Despoten Saddam wie jeder Iraker loben. Selbst unter vier Augen fällt kein kritisches Wort über den Tyrannen vom Tigris. Denn niemand kann sicher sein, dass sein Gast kein Informant ist. Was, wenn sich der Fremde an höherer Stelle verplappert? Man muss schon die kleinen Zeichen und Verhaltensweisen bemerken. Im Umfeld der hymnischen Lobreden auf Saddam Hussein fällt nur auf, dass die Christen nüchtern über den Diktator reden und es vermeiden, die üblichen Elogen auf ihn zu halten. In ihren Privathäusern hängt im Wohnzimmer üblicherweise nicht das obligatorische Saddam-Gemälde, sondern, je nach Konfession, ein Kreuz, ein Papstbild oder eine Ikone. Auf die Frage nach dem fehlenden Saddam-Porträt bekommt man nur einen Blick auf den Boden. Man darf das Fehlen bemerken, aber keine Stellungnahme erwarten, die sie um Kopf und Kragen bringen könnte. Die Kirchen in Bagdad denken pragmatisch-kurzsichtig. Sie richten sich nach dem Sprichwort: “Besser mit dem Teufel verhandeln, den man kennt.” Noch schützen die Büttel des irakischen Sicherheitsapparates vor heimlich eingereisten islamistischen Hassprediger. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes fürchten Christen, dass eine neue islamistische Führung wie im Iran kommt und damit offener Terror gegen die Christen ausgeübt wird. Völlig ablehnend gegenüber Hussein sind dagegen die Christen in der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak. Dort erlitten sie wie die Kurden irakische Giftgasangriffe. Hier wird offen ein Ende des Saddam-Regimes herbeigesehnt.Hussein verlangt Gehorsam
Das kleinere Übel?
Personenkult um Hussein
Freiheit – nur begrenzt
Dutzende Hinrichtungen
Leiden unter Sanktionen
Der Vizepremier ist Christ
Was kommt nach Saddam?
Datum: 06.02.2003
Quelle: idea Deutschland