«Kein Mensch sollte jemals gekauft oder verkauft werden»
«Ich stamme aus dem Norden Englands – deshalb spreche ich auch nicht ganz so vornehm wie einst die Queen», stellt sich Becky Murray unumwunden hinter ihren Akzent. «Bei uns im Norden ist man eher für seinen bodenständigen Dialekt bekannt. Meine Eltern liebten Jesus von ganzem Herzen, und ich bin praktisch in der Kirche aufgewachsen.»
Schon als kleines Mädchen stellte sie sich leidenschaftlich gegen die Ungerechtigkeit. «Sie war für mich wie ein rotes Tuch, sie brachte mich regelrecht auf die Palme. Meine Eltern neckten mich sogar, weil ich penibel zählte, wie viele Pommes auf meinem Teller lagen, als Jüngste von drei Geschwistern bekam ich oft die kleineren Portionen, was mich fuchsteufelswild machte. Denn meine beiden grössten Lieben waren schon damals Jesus – und Essen.»
Tiefe Einblicke in Rumänien und Sierra Leone
Als Teenagerin wollte sie Anwältin werden, um der Ungerechtigkeit auf juristischem Wege den Kampf anzusagen. Doch während einer Missionsreise nach Rumänien spürte sie, dass Gott wollte, dass sie einen sicheren Ort für schutzbedürftige Kinder schaffen sollte.
In den folgenden 13 Jahren leistete sie regelmässig Kurzzeit-Einsätze, um von anderen zu lernen. «So auch 2006 in Sierra Leone mit meiner christlichen Gemeinde aus England.»
Eines Tages traf Becky Murray das neunjährige Mädchen Felicity. «Sie war Waise, lebte auf der Strasse und bettelte, um irgendwie zu überleben. Was mich besonders berührte: Sie hatte keine Schuhe. «Ich selbst hatte nur noch 50 Cent in der Tasche – weniger als einen Euro. Ich war Studentin und hatte mein ganzes Geld in diese Reise gesteckt. Doch mit dieser kleinen Summe konnte ich auf dem Markt ein Paar pinke Flip-Flops erstehen, passend zu ihrem rosa Oberteil.»
Erste eigene Schuhe als Wendepunkt
Becky Murray freute sich mit der Kleinen: «Ich werde nie vergessen, wie ich Felicity den Hügel herunterlaufen sah, mit einem riesigen Lächeln, voller Freude über ihre ersten eigenen Schuhe. Dann fragte sie mich: ‘Soll ich im Hotelzimmer auf dich warten?’ Ich antwortete: ‘Nein, wir fahren gleich weiter zur Evangelisationsveranstaltung. Du kannst gern mitkommen.’ Doch sie fragte erneut: ‘Ja, aber soll ich nicht in deinem Schlafzimmer warten?’»
Becky Murray war völlig überfordert mit dieser Frage. «Da stand ein neunjähriges Mädchen vor mir, und ich war selbst kaum älter als zwanzig. Ich stamme aus einem liebevollen Elternhaus mit einem überbehütenden Vater, für mich war ihre Frage schlicht unbegreiflich. Als ich nachhakte, wurde klar: Sie dachte, ich hätte ihr die Flip-Flops nur gekauft, um anschliessend sexuelle Gegenleistungen von ihr zu fordern. Dieser Moment hat mich zutiefst erschüttert. Ich blickte ihr in die Augen und sprach innerlich mit Gott: ‘Ich bin dabei. Auch wenn es einzig für dieses eine Kind ist, ich gebe mein ganzes Leben dafür. Kein Mensch sollte jemals gekauft oder verkauft werden.»
Der Teelöffel und der Junge bei Jesus
Wenn man das Ausmass der weltweiten Not sieht, kann man sich leicht überwältigt fühlen. «Ich kann nicht allen helfen. Die Versuchung ist gross, gar nichts zu tun – weil man nicht alles lösen kann.»
Manchmal fühle es sich an, als hätte sie nur einen Teelöffel in der Hand, um ein ganzes Meer leerzuschöpfen. Aber Jesus habe den kleinen Jungen auch nicht gebeten, 5’000 Menschen zu ernähren. «Er bat ihn nur, das Brot und die Fische zu geben, die er hatte. Genauso fragt Gott uns: Was hast du heute in deiner Hand? Vielleicht ist es nur ein Paar Flip-Flops für 50 Cent. Aber jeder von uns kann heute jemanden erreichen.»
«Ich wäre zurückgeschreckt»
Wenn ihr damals jemand gesagt hätte, dass sie einmal mit Tausenden arbeiten würde, wäre sie zurückgeschreckt. «Aber einem Menschen helfen? Das kann ich. Meinem Nächsten helfen? Das ist möglich. Und so oft sehen wir in der Bibel, dass Jesus genau das tut. Er bleibt für den Einzelnen stehen: für die Frau am Brunnen, für die Witwe, für die, die keiner sieht. Und dadurch werden ganze Städte verändert.»
Das sei der Herzschlag von «One By One», dem Hilfswerk, das Becky Murray gegründet hat: «Wenn wir mit offenen Augen durch den Tag gehen und uns fragen: ‘Wen kann ich heute erreichen?’ – dann können wir einen gewaltigen Unterschied machen. Unser Team weltweit leistet unglaubliche Arbeit in unseren Projekten. Ich sehe Kinder, die einst schwer krank waren und kaum eine Chance auf Schulbildung hatten – und heute ihren Abschluss machen.»
Mit offenen Händen leben
In Kenia führt das Werk seit über zehn Jahren ein Zentrum mit Wohnheim, Grund- und Sekundarschule, medizinischer Versorgung und mehreren Kirchengemeinden in der Region. «In Pakistan sieht unser Einsatz ganz anders aus. Kinder, die in Schuldknechtschaft hineingeboren wurden und Tag für Tag Ziegel formen, erhalten durch unsere Arbeit Bildung und ein neues Leben.» Und in Uganda wird derzeit ein neues Zentrum gebaut, nachdem die NGO dort präventiv tätig war. «Inzwischen haben wir über 47’000 Kinder in mehr als zehn Ländern erreicht und es geht weiter.»
Becky Murray sagt: «Das Schwierigste ist manchmal die Brutalität der Ungerechtigkeit. Anfang 2021 – nach den Auswirkungen der Corona-Krise – hatten viele gemeinnützige Organisationen zu kämpfen. Auch wir standen unter Druck. Ich sass in meinem Büro und dachte: Jetzt heisst es überleben. Keine neuen Projekte, keine neuen Mitarbeitenden, einfach durchhalten. Doch dann klingelte mein Telefon. Unsere Mitarbeitenden in Pakistan berichteten von einem dreijährigen Mädchen namens Mercy. Sie war in einer Ziegelfabrik vergewaltigt worden. So brutal, dass sie es nicht überlebte. Ihr kleiner Körper wurde einfach liegen gelassen. In diesem Moment erinnerte mich Gott an die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Zwei fromme Männer – ein Priester, ein Levit – gehen achtlos vorbei. Und ich erkannte: Das bin ich gerade. Ich schaue weg. Und das darf ich nicht. Ich rief unser Leitungsteam zusammen: ‘Wir werden unsere Arbeit in Pakistan verdoppeln.’ Und Gott stellte alles bereit – wir konnten das Zentrum erweitern und bauen nun unser erstes ‘Mercy Center’, ein Schutzhaus für Mädchen, die Ähnliches erleben mussten wie Mercy. Wenn wir unseren Blick auf ihn richten, führt er uns sicher durch. Und alles, was er braucht, ist unser ‘Ja’.»
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Datum: 21.06.2025
Autor:
Jesus Calling / Daniel Gerber
Quelle:
Jesus Calling / gekürzte Übersetzung: Jesus.ch