Depression: Wenn Dunkelheit leise kommt
Es gab keinen grossen Knall. Kein Zusammenbruch, keine Tränenflut mitten im Supermarkt, keine Nacht, in der ich schreiend aufgewacht bin. Sondern ein allmähliches Verschwinden. Von Freude. Von Leichtigkeit. Von mir selbst.
Irgendwann fiel mir auf, dass ich keine Entscheidungen mehr treffen wollte – nicht mal, was es zum Abendessen geben sollte. Dass ich morgens immer länger brauchte, um aus dem Bett zu kommen. Und dass ich einfach nur noch schlafen wollte, um nichts mehr zu fühlen. Ich war noch da. Ich machte weiter. Ich stand auf, kümmerte mich um meine Familie, erledigte meinen Job, lächelte im richtigen Moment. Aber innen drin war alles … leer. Dumpf. Wie in Watte gepackt. Gedanken wurden schwer. Die einfachsten Dinge zur Last. Und selbst schöne Dinge fühlten sich an wie ein weiterer Punkt auf der To-do-Liste. Einfach mal herzhaft lachen, geniessen oder zu einer guten, wohltuenden Ruhe zu kommen, gab es nicht mehr. Freude empfand ich nicht mehr im Herzen, sondern nur noch im Kopf.
Wirklich krank?
Ich dachte lange, das sei einfach der Preis fürs Erwachsensein. Für Verantwortung. Für ein Leben, das eben nicht immer leicht ist. Ich war gerade 40 geworden, meine Kinder waren 18 und 14 Jahre alt und ich war bereits 21 Jahre verheiratet. Da kann man schon mal müde werden. Ich hielt es für «Erschöpfung» oder vermutete körperliche Ursachen wie Eisenmangel. Ich versuchte, mich zusammenzureissen. Ich betete, verdrängte, funktionierte weiter. Denn wer gut funktioniert, kann doch nicht wirklich krank sein – oder?
Ich war immer «die Starke». Organisiert. Verlässlich. Funktionierend. Und gleichzeitig so müde. So leer. Lange habe ich das ignoriert – bis es nicht mehr ging. Im Jahr 2022 funktionierte ich nach aussen hin vollkommen normal. Niemand merkte, was in mir vorging. Aber sobald ich mittags von der Arbeit nach Hause kam, brach ich jeden Tag zusammen. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Meine Hausärztin war die Erste, bei der ich Hilfe suchte. Ich ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass meine Symptome körperliche Ursachen hätten.
Die Diagnose
Meine Hausärztin hörte zu. Stellte Fragen. Und sagte schliesslich das, was ich tief in mir längst geahnt hatte, aber nicht wahrhaben wollte: Depression. Mittelgradig.
Ich fühlte mich ertappt. Beschämt. Und gleichzeitig erleichtert. Endlich hatte dieses schwere, namenlose Gefühl einen Namen. Endlich musste ich nicht mehr so tun, als wäre alles gut.
Was ich damals nicht wusste: Ich war nicht allein. Viele Frauen erleben eine sogenannte hochfunktionale Depression – sie leisten im Aussen viel, wirken stabil, aber innerlich kämpfen sie gegen Leere, Überforderung, Selbstzweifel. Und weil nach aussen alles scheinbar funktioniert, dauert es oft zu lange, bis sie sich Hilfe holen.
Therapie – ein mutiger Schritt
Ziemlich schnell bekam ich einen Platz für eine Psychotherapie. Ich war einfach nur dankbar. Wöchentlich sass ich nun einer fremden Frau gegenüber, die fragte: «Wie geht es Ihnen?» Oder einfach schwieg, bis ich zu reden begann. Es war unangenehm. Und doch wusste ich: Ich will diese Chance nutzen. Ich will verstehen, warum ich mich so abgeschnitten fühle – von mir selbst, meinem Körper, meinen Bedürfnissen. Ich will nicht mehr nur funktionieren.
Was sich anfangs fremd und unbequem anfühlte, wurde zu einem geschützten Raum. Es tat gut, einen Ort zu haben, an dem alles rausdurfte, was sich in mir angestaut hatte. Immer wieder überraschte mich, was durch eine einfache Frage in mir in Bewegung kam.
Ich verstand nicht alles sofort. Manche Sitzungen schienen wirkungslos. Ich ging frustriert nach Hause. Ich habe viel geweint. Therapie ist kein Zuckerschlecken. Es ist ein bewusstes Hinsehen, ein Öffnen alter Wunden, ein Hinterfragen von lebenslangen Prägungen und Glaubenssätzen – und das ist anstrengend. Aber ich habe auch geschmunzelt, gestaunt und war berührt.
Um den Prozess für mich mit etwas Schönem zu verbinden, erlaubte ich mir ein Ritual: Nach jeder Therapiesitzung am Freitag kaufte ich mir Blumen. Manchmal nur eine, manchmal einen ganzen Strauss – meine #freitagsblumen. Ein Zeichen an mich selbst: Ich bin mutig. Ich mache das für mich.
Der Weg in die Tiefe
Durch unser Gesundheitssystem konnte ich sechs Monate nach der Diagnose für sechs Wochen in eine psychosomatische Rehaklinik gehen. Der Gedanke, so lange von meiner Familie getrennt zu sein, machte mir Angst. Als mein Mann mich coronabedingt am Empfang abgeben musste, weinte ich bitterlich und bekam eine Panikattacke. Doch das legte sich – und die Wochen taten mir gut.
Gerne würde ich sagen, dass danach alles besser wurde. Doch das wäre nicht ehrlich. Schon zwei Monate nach der Reha kam die nächste depressive Episode. Andere Symptome, gleiches Gefühl: Bodenlosigkeit. Mein Tiefpunkt? Ein Anruf bei der Hausarztpraxis – oder besser: der Versuch. Ich wählte die Nummer, aber konnte kein Wort sagen. Nicht mal meinen Namen. Ich weinte. Am anderen Ende reagierte eine Mitarbeiterin ruhig und klar. Ich schaffte es zur Praxis.
Ich nahm für eine Zeit Antidepressiva, um mich zu stabilisieren und meine Therapie fortzusetzen. Heute lebe ich ohne Medikamente, habe andere Unterstützung im Alltag gefunden. Je länger der Prozess dauerte, desto stabiler wurde ich. Und doch blieb die Angst: Wann kommt der nächste Absturz?
In der Therapie lernte ich: Es geht nicht darum, den nächsten Rückfall zu fürchten – sondern die Zeit dazwischen wirklich zu leben. Heute erkenne ich die Phasen, in denen es mir schlecht geht. Ich nehme sie an. Sie gehören zu mir. Aber sie definieren mich nicht mehr. Ich bin dankbar. Für meinen Mann. Für meine Kinder. Dafür, dass ich bei ihnen ehrlich sein darf. Das musste ich erst lernen. Viele Gespräche, viele Tränen. Aber wir sind gemeinsam gewachsen. Sie haben mir gezeigt: Ich bin geliebt – auch, wenn ich nichts leiste.
Was mir heute hilft
Ich habe gelernt, meinem Alltag Struktur zu geben, ohne mich zu überfordern. Morgens beginne ich mit kleinen Ritualen – ein Kaffee in Ruhe, ein Bibelvers. Bewegung hilft mir enorm, um Anspannungen abzubauen, oder das Aufschreiben meiner Gefühle. Manchmal ist es nur ein Satz ins Tagebuch, der mir Klarheit bringt. Mit meinen Gefühlen im Kontakt zu sein und diese auszudrücken, ist für mich in den letzten Jahren wie das Erlernen einer Fremdsprache gewesen und es ist auch noch nicht zu meiner Muttersprache geworden. Aber der Prozess tut mir gut. Ich kann viel besser für mich sorgen, meine Bedürfnisse oder Bedenken äussern und mich im Gespräch mit anderen viel besser verbinden. Es sind die kleinen Dinge, die mir helfen, innerlich stabil zu bleiben.
Früher war ich stolz darauf, immer stark zu sein. Heute bin ich stolz darauf, ehrlich zu sein. Ich dachte lange, mein Wert liegt in dem, was ich leiste – heute weiss ich: Mein Wert bleibt, selbst wenn ich einfach nur da bin. Diese Erkenntnis war für mich fast revolutionär. Ich darf Mensch sein – mit Brüchen, mit Fragen, mit Wachstum.
Und Gott?
Am Anfang wurde es still. Ich hatte keine Worte mehr für Gebete. Keine Kraft für Lobpreis. Und doch war da etwas. Eine Gegenwart, die blieb. Wie ein warmer Schatten. Wie ein Halt im Nichts. Glaube war für mich nicht mehr laut. Sondern leise. Treu. In Kirchen dürfen wir lernen, dass psychische Gesundheit kein Tabuthema ist. Dass Glaube nicht immer siegt – aber trotzdem trägt. Gerade in den tiefen Tälern. Ich hätte mir im Umfeld mehr Mut für Mitgefühl gewünscht. Ein «Ich sehe dich – und ich bleibe» wirkt oft mehr als jedes Bibelzitat.
Lange dachte ich – geprägt durch meine Vergangenheit – dass Gebet, Glaube und Vergebung ausreichen würden. Ich hatte als Kind gelernt: Wer sich für Gott entscheidet, für den wird alles neu. Doch ich trug noch so vieles in mir. Heute weiss ich: Glaube und Therapie schliessen sich nicht aus. Sie ergänzen sich. Und ich bin froh, dass meine Kinder erleben, wie normal es ist, sich auch seelisch um sich selbst zu kümmern.
Was sich verändert hat
Ich spüre mich wieder. Ich bin nicht mehr «immer die Starke». Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor drei Jahren – und gleichzeitig endlich ich selbst. Mit Gefühlen. Mit Tiefe. Mit Mut zur Unperfektheit.
Ich kann meine Gefühle wahrnehmen, manchmal sogar benennen. Ich habe keine Angst mehr vor ihnen. Ich setze Grenzen. Ich bin barmherziger mit mir. Ich habe Liebe für die kleine Judith. Und bin stolz auf die Frau, die ich heute bin.
Ich finde Worte für mein Inneres – und den Mut, sie auszusprechen. Ich lasse andere Menschen an mir teilhaben. Auch in meinen verletzlichen Momenten. Und ich habe keine Angst mehr vor der Zukunft.
Was ich dir sagen möchte
Wenn du das Gefühl hast, etwas stimmt nicht – dann vertrau diesem Gefühl. Auch wenn du nach aussen hin alles im Griff hast. Du musst nicht erst zusammenbrechen, um dir Hilfe holen zu dürfen.
Du bist nicht falsch. Nicht zu schwach. Nicht allein. Eine Diagnose ist keine Endstation. Sie ist eine Einladung, dich selbst neu kennenzulernen. Und zu heilen. Es gibt einen Weg durch die Dunkelheit. Und am anderen Ende wartet ein Leben, das lebenswert ist – nicht, weil es perfekt ist, sondern weil du darin atmen darfst. Fühlen. Sein. Wirklich leben.
Mein Fazit
Den Zustand meiner Seele anzusprechen, mir Hilfe zu suchen und in Therapie zu gehen, war eine der mutigsten Entscheidungen meines Lebens. Und es war eine liebevolle Entscheidung. Nicht gegen mich. Sondern für mich.
Therapie ist kein Spaziergang. Kein Wohlfühlprogramm. Aber wenn du bereit bist, dich zu öffnen, kann sie heilsam, überraschend, anstrengend – und jeden einzelnen Schritt wert sein. Ich bin heute mehr ich als jemals zuvor. Und ich wünsche mir, dass meine Geschichte dir Mut macht, deinen eigenen Weg zu gehen – ehrlich, sanft, hoffnungsvoll.
Hast du Fragen, brauchst du ein offenes Ohr oder Hilfe in deiner persönlichen Situation? Nutze die Angebote der «Livenet-Beratung»: Seelsorge per E-Mail, Gebetsunterstützung und mehr. Weitere Adressen für Notsituationen findest du hier. Du musst in deinen Herausforderungen nicht allein bleiben!
Ähnliche Impulse gibt es im Magazin JOYCE. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
Zum Thema:
Talk mit Regula Sulser: Schluss mit Angst, Depression und Opfermentalität
Sich dem Thema stellen: Die Tücke der Depression
«Der Ozean in mir»: Janice Braun: Leben mit Depression
Datum: 17.11.2025
Autor:
Judith Beständig
Quelle:
Magazin Joyce 04/2025, SCM Bundes-Verlag