Ernsthaft oder selbstgerecht?

Das Pharisäer-Gen

Sind heutige christliche Verhaltensweisen eher durch Jesus oder die Pharisäer geprägt?
Sind Gläubige eher christusähnlich oder überwiegen ihre Tendenzen als Heuchler? Wie ausgeprägt ist das «Pharisäer-Gen»? Eine Umfrage sieht beide Einstellungen relativ gleichauf.

Das Neue Testament lässt kaum ein gutes Haar an den Pharisäern. In den Evangelien gibt es zwar einzelne Beispiele für glaubende, konstruktive Schriftgelehrte wie Nikodemus, der sich mit seinen Fragen auf den Weg zu Jesus machte und später auch in schwierigen Situationen Partei für ihn ergriff. Im Grossen und Ganzen aber werden sie als Heuchler beschrieben, die anderen Lasten auferlegen, die sie selbst nicht bereit sind zu tragen. Sie gelten als selbstgerecht, weil sie andere für deren scheinbar schlechteren Glauben verachten und sich in den Mittelpunkt stellen wie zum Beispiel der betende Pharisäer, der sich freut: «O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner da.»

Pharisäer heute

Kaum ein Christ würde deshalb heute die Pharisäer als Vorbild für den eigenen Glauben benennen. In der Praxis geschieht dies allerdings regelmässig. Zum einen, weil die Pharisäer auch positive Seiten hatten, die sehr stark mit dem Bild zusammenhängen, das heutige Gläubige von sich haben, die sich als «bibeltreue Christen» bezeichnen. Pharisäische Symbole waren: die Schriftrolle, ein aufgeschlagenes Gebetbuch, eine Schreibfeder und eine Krone. Den ganzen Tag verbrachten sie mit dem Studium der Tora und schrieben sie auch ab. Sie beteten und fasteten viel und ihr Ziel war Gelehrsamkeit (dafür stand die Krone). Diese Elemente sind nach wie vor sehr positiv bewertet. Vor etlichen Jahren gab es zum anderen eine Untersuchung des US-Meinungsforschungsinstituts Barna, das heutige christliche Verhaltensweisen danach einordnete, ob sie eher durch Jesus oder die Pharisäer geprägt wurden. Das Ergebnis zeigte, dass 51 Prozent der «christlichen» Charakterzüge eher durch problematisches pharisäisches Denken bedingt sind. Die Pharisäer sind also zurück – sie waren wohl nie weg.

Die Frage der Motivation und der Folgen

Folgen der Studie könnten Angriff und Verteidigung sein. Die einen würden dann betonen, wie heuchlerisch die Christen seien und dass sie es schon immer gewusst hätten, die anderen würden sich missverstanden fühlen und sich als «die wahren Christen» beschreiben, die zwar nicht vollkommen wären, aber doch viel besser als die Ergebnisse es zeigen würden. Beides wird der Studie nicht gerecht. David Kinnaman, der Präsident der Barna-Group, erklärte: «Unsere Absicht ist es, eine neue Diskussion über die immateriellen Aspekte der Nachfolge und Vertretung Jesu anzustossen. Natürlich kann eine Umfrage allein nicht vollständig messen, wie sehr jemand ‚christusähnlich‘ oder ‚pharisäerähnlich‘ ist. Die Studie soll jedoch grundlegende Eigenschaften Jesu identifizieren wie Empathie, Liebe und den Wunsch, den Glauben mit anderen zu teilen – oder den Widerstand gegen solche Ideale in Form von selbstbezogener Heuchelei.»

Interessant wird die Studie hauptsächlich dann, wenn ernsthafte Gläubige sich selbst und ihre Motive hinterfragen – dann kann eine neue Dynamik im Gemeindeleben entstehen, weil nicht mehr Formen das Entscheidende sind, sondern Herzenshaltungen. Die grundlegenden Aussagen, an denen das Studienteam seine Ergebnisse festmachte, sind bis heute hilfreiche Anknüpfungspunkte für einen Blick in den Spiegel bzw. das konstruktive Gespräch in Kirchen und Gemeinden, um wieder effektiv, missionarisch und liebevoll zu werden.

Christusähnliche Handlungen und Haltungen

  • Ich höre anderen zu, um ihre Geschichte kennenzulernen, bevor ich ihnen von meinem Glauben erzähle.
  • In den letzten Jahren habe ich mehrere Menschen dazu bewegt, darüber nachzudenken, Christus nachzufolgen.
  • Ich esse regelmässig mit Menschen, deren Glaube oder Moralvorstellungen sich stark von meinen unterscheiden.
  • Ich versuche, die Bedürfnisse von Nichtchristen zu entdecken, anstatt darauf zu warten, dass sie zu mir kommen.
  • Ich verbringe Zeit mit Nichtgläubigen, um ihnen zu helfen, Jesus nachzufolgen.
  • Ich sehe jeden Menschen als wertvoll in Gottes Augen, unabhängig von seiner Vergangenheit oder gegenwärtigen Situation.
  • Ich glaube, dass Gott für alle da ist.
  • Ich sehe, wie Gott im Leben der Menschen wirkt, auch wenn sie ihm nicht folgen.
  • Es ist wichtiger, den Menschen zu helfen und zu erkennen, dass Gott für sie da ist, als ihnen zu erklären, dass sie Sünder sind.
  • Ich empfinde Mitgefühl für Menschen, die Gott nicht folgen und unmoralische Dinge tun.

Selbstgerechte Handlungen und Haltungen

  • Ich sage anderen, dass das Wichtigste in meinem Leben darin besteht, Gottes Regeln zu befolgen.
  • Ich spreche nicht über meine Sünden oder Kämpfe. Das ist eine Sache zwischen mir und Gott.
  • Ich vermeide möglichst den Umgang mit Menschen, die offen homosexuell oder lesbisch sind.
  • Ich weise öfter auf diejenigen hin, die nicht die richtige Theologie oder Lehre haben.
  • Ich diene lieber Menschen, die meine Kirche besuchen, als denen ausserhalb.
  • Ich finde es schwierig, mit Menschen befreundet zu sein, die scheinbar ständig das Falsche tun.
  • Es ist nicht meine Verantwortung, Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen wollen.
  • Wenn ich die Fehler und Schwächen anderer Menschen sehe, dann bin ich dankbar, Christ zu sein.
  • Ich glaube, wir sollten uns gegen diejenigen stellen, die christlichen Werten entgegenstehen.
  • Menschen, die Gottes Regeln befolgen, sind besser als diejenigen, die dies nicht tun.

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Datum: 16.11.2025
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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