Achtung der Menschenwürde - auch in Zeiten des Mangels

Gott macht sich keine Illusionen, auch nicht über den Menschen. Er weiss Bescheid über des Menschen Chancen und Abgründe. In diesem Wissen spricht er dem Menschen eine einzigartige Würde zu.

Drei Dinge sind mir wichtig: Dass wir die Schönheit der dem Menschen von Gott zugesprochenen Würde neu entdecken, dass die destruktiven Muster, die die Würde des Menschen bedrohen, erkennen und dass wir im Kleinen einüben, was sich im Grossen zeigen soll.

Der Begriff der Würde spielt in der Bibel, in den Menschenrechtsdiskussionen der vergangenen 300 Jahre und in den Verfassungen der modernen Demokratien eine fundamentale Rolle. Dass in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus der Begriff der Würde zum Leitbegriff des Grundgesetzes wurde, hängt mit der Ahnung zusammen, dass mit der Würde des Menschen das Menschsein gesichert beziehungsweise bei ihrem Verlust das Menschsein verspielt wird.

Wenn der Nationalsozialismus und das Menschenverachtende dieser Zeit nicht mehr vorkommen soll, muss als erstes die Menschenwürde und der Respekt vor dem Menschsein gesichert werden. Ohne diese Sicherung gefährden wir uns selber und unsere Zukunft.

Die Schönheit der Würde

Kein Lebewesen und nichts in dieser Weltgeschichte hat das Vorrecht, als Gegenüber von Gott angesprochen zu werden. Zu seinem Bilde ist der Mensch geschaffen: das Gottesbild steht Gott bei der Erschaffung des Menschen vor Augen. Dann gibt Gott dem Menschen den Auftrag zu herrschen: Gott delegiert Herrschaft und traut diese dem Menschen zu.

Dass zu einem späteren Zeitpunkt in der Weltgeschichte Gott seinen eigenen Sohn zu uns Menschen gesandt hat, übersteigt unser Verstehensvermögen. Jesus wohnt unter uns und trägt all unsere Gebrochenheit ans Kreuz. Gott selber kommt in die Verdorbenheit des Menschen. Er kommt als Gottessohn auf unsere Augenhöhe. Mehr Auszeichnung und ein grösseres Ja zu uns Menschen kann dem Menschen nicht zukommen.

Vertiefen wir uns in diese Zusammenhänge, wird deutlich:

-In die Würde wird der Mensch eingesetzt: Ein Beispiel dafür ist Dan. 3,30: Der damalige König setzte die drei Männer aus dem Feuerofen wieder «in ihre Würde» ein. Der König gab ihnen den Stand, der ihnen von Gott her im letzten zusteht.

- Niemand nimmt sich selbst die Würde: Auch Christus hat sich nicht selbst für würdig gehalten, Hohepriester zu werden. Der Vater hat sie ihm gegeben (Hebräberbrief.5,4-5).

- Die Würde kann mit Füssen getreten werden: «Die Engel bewahrten ihre Würde nicht, sie verliessen ihre Behausung bei Gott» (Judas 6).

Fazit: Gott spricht dem Menschen Würde zu. Und trotzdem kann diese Würde unter die Räder geraten.

Die Würde ist bedroht

Es gilt ein einfaches Grundgesetz: Wo es eng wird, wird es in besonderer Weise eng für den würdevollen Umgang der Menschen untereinander. Das erleben wir in in der Ehe, in der Familie, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, beim Autofahren, im Verein und in der Nachbarschaft. Je höher der gespürte Bedrohungsgrad ist, umso geringer der Respekt vor dem anderen.

Einige Beispiele: wenn einem Kind etwas weggenommen wird, wird schon mal recht rücksichtslos um sich geschlagen; wenn in der Familie Pflichten nicht erfüllt werden, kann durchaus recht respektlos über den Sünder hergezogen werden; und wenn am Arbeitsplatz einer nicht leistet, was erwartet wird, liegt ein recht despektierlichen Reden durchaus nahe.

Würde ist zerbrechlich

Würde ist zerbrechlich. In guten Zeiten ist es nicht schwer, davon zu reden und sich auf einen würdevollen Umgang miteinander zu verpflichten. Komme ich in Bedrängnis und Enge, kommt es schnell zum Bruch der Verpflichtung auf Würde und Respekt.

Dass Kinder abgetrieben werden, ist Folge von Beengung. Dass ältere Menschen umgebracht werden, entspringt dem Grundgefühl, dass es eng ist und man nicht genug hat, um auch für sie zu sorgen und sie zu lieben. Mangel, sogar wenn er nur gefühlt wird und gar nicht real ist, führt in die Entwürdigung des Menschen.

Sollte es nun so sein, dass wir als mitteleuropäische Menschen in der Tat auf Zeiten des zunehmenden – tatsächlichen und subjektiv empfundenen – Mangels zugehen, wird es eng um unsere Würde. Mir macht weniger der kommende Mangel Sorge, sondern die Folgen im Hinblick auf die Menschenwürde. Das eigentliche Problem ist: Wir haben nicht (mehr) gelernt, mit Mangelsituationen konstruktiv umzugehen. Mit Recht lässt sich fragen: Sind wir fit für Zeiten des Mangels?

Im Kleinen einüben, was im Grossen gelingen soll

Unter uns Christen ist oft das zu finden, was wir viel offensichtlicher in unserer Gesellschaft wahrnehmen können. Und umgekehrt: Was unter uns Christen gelebte Wirklichkeit ist, hat Chance, auch gesellschaftlich Bedeutung zu haben. Daraus leitet sich für uns Christen der Anspruch ab, unter uns verallgemeinerungsfähige Antworten im Hinblick auf unsere Gesellschaft zu finden, zu leben und einzuüben.

Denn was sich unter uns nicht bewährt, kann keinesfalls im grösseren Umfeld wirkungsvoll werden. Dass wir mit der Energieverschwendung durch (Negativ-)Beurteilung unserer gesellschaftlichen Umstände aufhören und alle vorhandene Energie in die Einübung jener Verhaltensweisen investieren, die wir uns in unserer Gesellschaft wünschen, ist Gebot der Stunde.

Was also muss im Hinblick auf die Würde des Menschen auch in Mangelzeiten eingeübt werden? Einige Streiflichter:

- Unser Denken und unsere Denkweisen über uns selber und unsere Nächsten säubern: Wenn Gott uns und unseren Nächsten Würde zuspricht, haben wir kein Recht, über uns und unsere Nächsten würdelos und despektierlich zu denken. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das kann in unserer Welt nur gelingen, wenn unser Denken zuallererst innerhalb unserer Gemeinschaften von allem Despektierlichen gesäubert ist.

- Ein Reden vom Herzen her einüben: Glücklicherweise ist unser Herz nicht ganz so durch den westeuropäischen Beurteilungswahn und die daraus folgende Kritiksucht verseucht wie unser Denken. Das Herz bejaht, das Herz sucht das Wahre, das Herz will das Gute. Wir wissen, dass man nur mit dem Herzen gut sieht. Es tut in unseren Gemeinschaften Not, wieder mit dem Herzen, in dem Jesus wohnt, zu sehen, vom Herzen her zu reden und uns vom Herzen her zu begegnen.

- Ein tägliches Einüben von Respekt in unserem Handeln: Es steht uns Menschen nicht zu, ein Menschenleben wie eine manipulierbare Sache zu behandeln. Das einzige, was uns zusteht, ist Menschen zu lieben. Dies ist gleichzeitig die einzige Chance und der einzige Weg, sie zu verändern.

Mein Wunsch: Dass christliche Gemeinden so etwas wie Lernzentren sind, und dass dort gelernt wird, was unsere Gesellschaft in Zukunft braucht.

Autor:
Dr. Markus Müller ist seit 2001 Direktor der Pilgermission St. Chrischona. Er studierte Heilpädagogik, Erziehungswissenschaft und Anthropologie. Drei Jahre arbeitete er am Max-Plank-Institut für Psychiatrie in München. 1986 promovierte er in Behindertenpädagogik an der philosophischen Fakultät in Fribourg/Schweiz. Danach arbeitete er zehn Jahre im vollzeitlichen Dienst des CVJM München. Es folgten drei Jahre als Dozent an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Zizers (Stiftung Gott hilft). Seit 1999 ist er Dozent am Theologischen Seminar St. Chrischona. Markus Müller (52) ist verheiratet mit Doris. Das Ehepaar hat vier Kinder im Alter von 16, 15, 12 und 9 Jahren

Datum: 04.03.2007
Autor: Markus Müller
Quelle: Panorama Chrischona

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