«Die Erwartungen an Gott sind immens»

Pfarrer im Einkaufszentrum

Wer auf dem Kalanderplatz des Zürcher Einkaufszentrums Sihlcity rechts abbiegt und im Kulturhaus die Treppe hochsteigt, findet die Sihlcity-Kirche mit ihrem Raum der Stille. Der reformierte Seelsorger Jack Vetsch ist für Menschen da, die sich aussprechen möchten.
Sihlcity-Pfarrer Jack Vetsch
Diesen Stern gibt die Sihlcity-Kirche im Advent den Besuchern mit
Dank, Lob, Bitte: Einträge im Anliegenbuch.
Ergänzen sich: Guido Schwitter (links) und Jack Vetsch. Die früheren Wandmalereien wurden beim Sihlcity-Umbau erhalten.
Konsum und Sinn: Jack Vetsch kontaktiert auch Jugendliche.

«Die Marktplätze haben sich verschoben. Die Kirche soll dies nachvollziehen.» Am Anfang wünschte sich Vetsch die Sihlcity-Kirche im Hauptgebäude, mitten in Dutzenden Geschäften. Doch dort herrscht immer Betrieb. «Im Kulturhaus ist dagegen Stille zu geniessen.» Ein weiterer Vorteil: Man kann den Ort kirchlicher Seelsorge auch unerkannt aufsuchen. «Darum macht es nichts, dass man im Zentrum nicht gleich in die Kirche hereinpurzelt», bemerkt Jack Vetsch.

«Einfach von Kirche reden»

Der reformierte Pfarrer, vor der Sihlcity-Eröffnung 2007 in einer Stadtgemeinde tätig, ist dankbar, «dass wir an dem Ort, wo 2500 Leute arbeiten, einfach von Kirche reden können. Wir erzählen, was wir tun. Wir gehen nirgends hin und rufen auf, reformiert oder katholisch zu werden - wir sagen nur: Es gibt diesen Ort und alle sind willkommen.» Vetsch, sein römisch-katholischer Kollege Guido Schwitter und der Christkatholik Martin Bühler sind mit Arbeitern wie auch mit Kaderleuten im Gespräch. Hier (wie in der von Vetsch gegründeten SMS- und Internet-Seelsorge) zeigt sich: «Die Seele wagt sich mehr vor, wenn sie ihre Identität nicht preisgeben muss.» 1‘182 Seelsorgegespräche verzeichnet der Jahresbericht 2008.

Die Sihlcity-Kirche ist eine stille Anfrage: «Wegen unserer Anwesenheit fragen sich Leute, wo sie stehen, ob sie eine religiöse Heimat haben. Wir von der Kirche bieten religiöse Heimat an, in verschiedenen Angeboten, konfessionell offen. Wir sagen: Auch wenn du religiös nicht gebunden bist, bist du willkommen - dann ist die Kirche für dich ein Raum der Stille.»

Alternative ausserorts

Der rund 5 mal 5 Meter kleine, durchgestylte Raum hat ein grosses Glasfenster von Hans Erni. Vetsch erzählt von einem Pensionierten aus Bern, der regelmässig herkommt, «um Kraft aufzutanken». Pfarrer suchen mit ihren Konfirmanden die neue Sihlcity-Kirche auf (letzthin an einem Samstag gleich aus drei Kantonen). Pro Tag betreten laut dem letzten Jahresbericht 30-80 Besucherinnen und Besucher den Raum der Stille.

Vetsch ist überzeugt, dass es neben der örtlichen Kirchgemeinde Alternatives braucht. «Wir können hier Mosaiksteinchen dazu legen. Viele Leute glauben nämlich noch - und hier müssen sie keine Maske anziehen. Der Seelsorger, die Seelsorgerin könnte sie ja am Ende verstehen. Im Gästebuch sehen wir: Die Erwartungen an Gott sind immens. Was da an Bitten, Hoffnungen und auch Dankbarkeit eingetragen wird!»



Für Traurige, Ratlose, Überforderte

Unterwegs zur Mall, ging Vetsch kürzlich an vier Teenagern vorbei. «Einer hielt die Hand vors Gesicht; er weinte. Ein anderer versuchte ihn zu trösten. Ich hatte sie schon passiert, da fragte ich mich: Jack, hast du die Tränen gesehen?» Der Pfarrer drehte um, sprach die beiden an, lud sie in die Kirche über dem Starbucks ein, erwähnte den Raum zum Reden und dass die Empfangsdame ihnen ein Getränk geben würde. «Und wenn ihr ein Gespräch wünscht - ein Pfarrer wie ich ist auch noch da.» Als Vetsch vom Einkauf zurückkehrte, sassen die beiden ruhig im Empfangsraum und tranken etwas. «Ich sagte ihnen: 'Ist doch gut, dass es einen Platz gibt, wo man nicht ausgestellt oder schräg angesehen wird‘.» Die vier kamen wieder.

Zum Sihlcity gehören neben den 110 Geschäften auch Bürogebäude der Grossbank Credit Suisse mit 1200 Angestellten. Laut Vetsch leiden manche Erwerbstätige darunter, dass sie keine Probleme haben sollten. «Unter den teils unbarmherzigen Mühlen des Kommerzes leiden alle! Von den einfachen Arbeitern bis hinauf ins Management wird Druck verspürt. Menschen kämpfen um ihr Auskommen.» In Krisenzeiten wagt man sich - wenn es jemand mitbekommt - noch weniger auszusprechen.

Vetschs Sensibilität und Frohnatur kommen ihm zugute. Managern bietet er das Gespräch gewandt als «Mental Health Refresher» an (Auffrischung der geistigen Gesundheit). Als Geistlicher arbeitet er daran, dass keine Fronten entstehen. «Wir wollen die harten Abläufe nicht ausblenden oder verniedlichen. Aber die Menschen ernst nehmen - sie stehen auch vor Gott als seine Geschöpfe, haben ihren Glauben oder suchen ihn.»

Einbezogen, eingeschränkt

Beeinflussen Jack Vetsch und Guido Schwitter den Gang der Dinge? Manager hätten ihm gegenüber die Kirche als bestimmenden Faktor im Sihlcity bezeichnet, sagt der Pfarrer. «Wie genau, weiss ich nicht. Wir werden von der Centerleitung eingeladen mitzudenken, wenn sie soziale Fragen erwägt.» Der Centerleiter Philipp Schoch hat Einsitz in die Kommission der Sihlcity-Kirche genommen. Die Kirche beteilige sich auch an den Gesprächen mit der benachbarten Drogenauffangstelle (älter als Sihlcity). «Man wünscht, dass wir uns mit unserem Menschenbild einbringen. Bei Weihnachtsaktionen hat man auch schon thematisch abgestimmt.»

Religiöse und politische Werbung wird im Einkaufscenter (Privatgrund) prizipiell nicht toleriert. Vetsch kann sich Lesungen vorstellen. «Wir sind einer von ganz vielen Mietern. Als Nonprofit-Organisation geniessen wir viel Goodwill. Wir kommen auf der roten LED-Anzeige vor, die bei der Tramstation aus der Höhe die Besucher begrüsst: "Sihlcity-Kirche - Halt machen, Halt finden" heisst es da.»

Anbieten, was man nicht kaufen kann

Das kirchliche Angebot im Kulturhaus umfasst den Eingangsbereich mit Réception (von insgesamt 28 Freiwilligen betreut) und Sitzgelegenheiten, zwei Büros als Räume für Gespräche und den Raum der Stille. Es befindet sich am Schnittpunkt von Konsumlust und innerer Leere, der Leere, die mit Geschäftigkeit, dem Genuss und Kauf von Schönem verscheucht wird. «Es macht enorm Sinn, an einem solchen Ort das anzubieten, was man nicht kaufen kann. Wofür lebe ich? - Die Frage stellen sich viele.» Im Advent 2009 («dem Kirchen-, nicht dem Verkaufs-Advent!») gibt das Sihlcity-Kirche-Team den Besuchern einen metallenen Stern mit.

Kirche ohne Gottesdienst

Finanziert wird die Sihlcity-Kirche, die auf der Homepage des Zentrums leicht zu finden ist, von den Stadtverbänden der reformierten und der römisch-katholischen Gemeinden Zürichs und der christkatholischen Gemeinde. Im Kanton zahlen die Unternehmen weiterhin Steuern für Seelsorge, soziale und kulturelle Tätigkeiten der anerkannten Kirchen.

Die Sihlcity-Kirche entspricht dieser Zweckbestimmung; sie führt grundsätzlich keine Gottesdienste durch. Neben anderen Schriften legt sie wöchentlich ihr 'Rastwort' auf. Geöffnet ist sie von Montag bis Samstag von 9-21 Uhr (die Läden schliessen um acht). «Bei Sonntagsverkäufen sind wir auch da. Auf dem Gelände ist immer eine Seelsorgeperson zu erreichen.»

Offen für Menschen anderer Religion

Im Unterschied zur «Bahnhofkirche» im Hauptbahnhof finden sich die Symbole der Weltreligionen nicht im Raum der Stille selbst, sondern lediglich draussen an der Tür. «Wir sind laut Konzept ökumenische Kirche», erklärt Vetsch, «mit Gastrecht für Menschen aus anderen Religionen. Sie sind ausdrücklich willkommen. Einzelne kommen täglich her, um zu beten.» In einer Ecke ist am Boden die Richtung nach Mekka angegeben. «Alle sollen hier ihren Platz haben. Viele meinen ja, dass Religionen zueinander im Konflikt stehen müssen. Gerade für sie ist das etwas Wunderschönes.»

Vetsch verweist auf religiös gemischte Familien. Ein neunjähriger Knabe habe die Kirche besucht und ihn gefragt, für wen sie sei. «Ich sagte: 'Für alle.' Später kam er mit seiner Mutter wieder. Sie fand den Raum der Stille etwas Befreiendes - ein Ort des Friedens unter den Religionen.» Entscheidend ist, so Vetsch, «dass wir unseren Glauben überzeugt leben. Das strahlt aus.»

«Nur Gutes tun»

Gerade im speziellen Sihlcity-Umfeld lohnt es sich, für die Kirche zu arbeiten, sagt Vetsch. Dass man es vonseiten der Kirche gut meine mit den Menschen, das spüre man hier extrem. «Ich sage das den Mitarbeitenden immer wieder. Wir müssen nur Gutes tun - wie mir einmal ein Unternehmer sagte. Wir müssen niemand übers Ohr hauen, überschwatzen, übervorteilen. Das bringt allen etwas. Für die Kirche, für den Glauben arbeiten ist etwas Wunderbares!»

Webseite: www.sihlcity-kirche.ch

Datum: 24.12.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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