„Die Bibel, Goethe und ein Sparbuch“: Woran halten die Konservativen fest?

Rödder Andreas
Sparbuch
Marquess of Salisbury
Margret Thatcher

Je rascher sich die Gesellschaft wandelt, umso dringender rufen Konservative danach, das Bewährte zu bewahren. Sie wollen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, was vergangene Generationen erarbeitet haben. Doch stellt sich die Frage, was davon überhaupt noch zu erhalten – und was zukunftsfähig ist.

Die spürbare Verunsicherung in der Schweizer Gesellschaft (über die Zukunft des Wohlfahrtsstaats, zunehmende Gewaltbereitschaft und die Möglichkeiten multikulturellen Zusammenlebens) wird von der Schweizerischen Volkspartei SVP seit längerem wirkungsvoll ausgebeutet. Dass nun auch die liberale FDP auf ihren Wahlplakaten den Begriff ‚Sicherheit‘ ins Zentrum stellt, hat in der FDP-nahen Neuen Zürcher Zeitung zwei Monate vor den eidgenössischen Parlamentswahlen eine Beilage provoziert.

Zwei Artikel befassen sich mit „einem Denken und einer mentalen Stimmung, die im Neuen, im Wechselhaften und im Fremden eher Bedrohliches denn Chancen-Bietendes erkennen – obwohl sich gerade im Wandel die Fenster zur Freiheit öffnen“. Im Folgenden wird auf den ersten Artikel eingegangen.

Keine geschlossene Weltsicht

Was heisst ‚konservativ‘? Das entsprechende lateinische Wort bedeutet: bewahren. Der Stuttgarter Historiker Andreas Rödder hält in seiner Untersuchung des Begriffs eingangs fest, dass „vieles, was sich konservativ nennt, nicht konservativ ist“. Auch die saloppe Umschreibung des deutschen Talkers Harald Schmidt: „Ein Konservativer hat die Bibel, Goethe und ein Sparbuch“ helfe nicht wirklich weiter. Angesichts vieler verschiedener Motive für konservative Bewegungen könne man nicht von einer geschlossenen Weltsicht reden.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert suchten konserative Kräfte – in einer Gegenbewegung gegen den modernen Wandel, „vor allem gegen die Aufklärungsphilosophie mit ihrem Rationalismus und ihrer Utopie der Emanzipation des vernünftigen Individuums“ – das Alte zu bewahren. Rödder sieht schon damals und bis heute „drei Kernelemente von Konservatismus: das Menschenbild, die Denkweise und die Zivilgesellschaft“.

Nüchternes Eingeständnis: Leidenschaften stärker als Vernunft

Konservative gehen von der Unvollkommenheit des Menschen aus. Rödder zitiert das pessimistische Wort des englischen Marquess of Salisbury: „Dünn ist die Kruste der Zivilisation über der kochenden Lava menschlicher Leidenschaften“. An diesem Punkt stellt der Historiker eine „unübersehbare Nähe“ der Konservativem zum christlichen Menschenbild vom erlösungsbedürftigen Menschen fest.

Christen glauben, dass Christus den neuen Menschen schafft – daher stellten sich Konservative gegen die (für sie unsinnigen) Versuche von Liberalen oder auch Sozialisten „den Menschen zu vervollkommnen, gar einen ‚neuen Menschen‘ gewinnen oder eine vollkommene menschliche Gesellschaft, einen historischen Endzustand herstellen zu können“. Auch der „Idee von der sozialen Gleichheit aller Menschen“ erteilten sie eine Absage.

Auf Bewährtes bauen und nüchtern in die Zukunft sehen

Wenn Aufklärer der Vernunft so viel zutrauten (und trauen?), dann waren Konservative schon immer skeptisch. Sie setzten mehr auf Erfahrung und gesunden Menschenverstand. „Und das bedeutet nicht zuletzt, das bewährte Vorhandene zu schätzen und nicht voreilig dem unbekannten Möglichen zu opfern. Fortschrittsskepsis ist einer solchen Haltung eingeschrieben.“

Überschneidungen und grosse Vielfalt

Rödder weist im Weiteren darauf hin, dass Konservative vor 150 Jahren eine Bürgergesellschaft mit einer soliden Moral anstrebten – wie die Liberalen, mit denen sie sonst das Heu nicht auf derselben Bühne hatten. Während sie den Auswüchsen des Kapitalismus ähnlich kritisch begegneten wie die Sozialisten, glaubten sie anders als diese nicht an einen Staat, der alles regeln und ausgleichen könne. Die Entwicklung der konservativen Bewegungen in Europa verlief allerdings in den letzten zwei Jahrhunderten je nach Land sehr unterschiedlich.

Aufgrund der drei erwähnten Merkmale (skeptisches Menschenbild, antiradikale Denkweise, von Werten getragene Zivilgesellschaft) grenzt Rödder die wahren Konservativen ab von neueren Strömungen, die nicht konservativ seien, auch wenn sie es vorgäben; darunter zählt er die Politik von Margaret Thatcher und jene von Ronald Reagan, welche individualistisch ausgerichtet war – „wie überhaupt weite Bestandteile des amerikanischen Konservatismus“.

Utopien misstrauen

An der Verbesserungsfähigkeit des Menschen zweifeln und gesellschaftlichen Utopien misstrauen: Dies ist für Rödder gerade angesichts von Gentechnik und Biotechnologie und hehren Globalisierungsparolen sehr aktuell. Die Konservativen hätten „in Zeiten kurzatmiger vermeintlicher ‚Modernisierung‘ doch einiges beizutragen zu den zentralen Debatten über die Probleme der Gegenwart in ganz Europa“.

Jesus predigte Aufbruch aus alten Bindungen

Manche Christen stellen sich – das Menschenbild legt es wie erwähnt nahe – allzu gern bei konservativen Bewegungen unters Dach, um vom Regen der Moderne nicht völlig durchnässt zu werden. Gerade sie müssen sich allerdings fragen, was sie denn bewahren wollen. Welche Form der Familie, welche Verbindlichkeit der Gemeinschaft, welcher Begriff von Treue lohnen den Kampf im 21. Jahrhundert?

Die Massstäbe von Jesus Christus, welche er in der Bergpredigt und anderen Botschaften unter die Leute brachte, bedeuteten die Rückkehr zu den einfachen, grossen Forderungen Gottes, ihn und die Mitmenschen zu lieben. Zugleich schlossen diese Massstäbe auch den Bruch mit alten Bindungen ein. Zu erinnern wäre an den Satz: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert“. Oder: „Ich bin gekommen, um auf der Erde ein Feuer anzufachen, und ich wollte, es stünde schon in hellem Brand“.

Datum: 19.08.2003
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

Werbung
Livenet Service
Werbung