Die Apfelbaumstrategie
Wie immer war der Tisch im Lutherhaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Käthe sorgte dafür, dass jeder der Studenten, Gäste und natürlich die eigenen Kinder etwas zu essen erhielten. Während die Teller langsam leerer und die Mägen voller wurden, begannen die ersten Gespräche. «Dr. Luther, glauben Sie, dass das Ende der Welt bald kommt?», fragte einer. «Bald kommt?», entgegnete der Reformator. «Nein, nein, es steht bereits vor der Tür.» «Aber was sollen wir dann tun?» Luther lächelte, nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug und erklärte in die Tischrunde, die an seinen Lippen hing: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.»
So oder ähnlich stellte man sich die Entstehung von Martin Luthers vielleicht bekanntestem Zitat lange vor. Während es immer weitere Verbreitung fand, machten sich natürlich auch Historikerinnen und Lutherforscher auf die Suche nach einer alten Quelle dafür. Der Reformator war recht produktiv beim Schreiben. Die erst 2009 vollständig erschienene «Weimarer Ausgabe» seiner Schriften umfasst immerhin 80'000 Seiten. Doch weder in seinen eigenen Büchern noch in den «Tischreden», die vielfach seine Gäste notiert hatten, fand sich der bekannte Satz vom Apfelbäumchen.
Und er passt doch
Martin Luther liebte das Leben und die Natur. Immer wieder verwies er beim Erzählen und Schreiben auf Bäume, Früchte und Pflanzen. Sie waren ihm ein Sinnbild für die Auferstehung. Und in den Bäumen soll er Gottes Gnade im irdischen Leben gesehen haben. Selbst wenn er den Satz vom Apfelbäumchen nie gesagt hat, scheint er doch zu ihm zu passen. Kein Wunder, dass zur 500-Jahr-Feier in Wittenberg ein Luther-Garten entstand, in dem viele Prominente Bäume pflanzten. Vor dem Lutherhaus in Eisenach steht ein Apfelbaum mit einer Tafel, auf der der Satz zu lesen ist. Als sie vor ein paar Jahren erneuert wurde, erhielt sie allerdings einen Zusatz mit der wirklichen Entstehungsgeschichte. Unabhängig davon erkennen viele in dem Lutherzitat etwas, das sie berührt und das ihnen hilft, mit dem Hier und Heute umzugehen – sonst wäre es nicht so weit verbreitet.
Kritisch, dankbar, hoffnungsvoll
«Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» Wie wurde diese Aussage im Laufe der Zeit aufgenommen? Der expressionistische Dichter Gottfried Benn schrieb 1950 mit Blick auf das in Trümmern liegende Deutschland: «Was meinte Luther mit dem Apfelbaum? / Mir ist es gleich – auch Untergang ist Traum.» In der Fortsetzung beschrieb er Luther als selbstgerechten Biedermann in seinem Garten, der dem Untergang gelassen und eher zynisch entgegenblickt (hier ist das vollständige Gedicht).
Die meisten sahen und sehen allerdings eher positiv auf das Zitat. Der Liedermacher Reinhard Mey veröffentlichte 1989 sein Album «Mein Apfelbäumchen», in dem er seine Kinder und Kinder überhaupt als Hoffnungsträger der Gesellschaft beschreibt: «Wenn alle Hoffnungen verdorr’n / Mit dir beginn ich ganz von vorn / Und Unerreichbares erreichen, ja, ich kann’s / Du bist das Apfelbäumchen, das ich pflanz.»
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine jüdische Parallele aus dem ersten Jahrhundert. Rabbi Jochanan ben Sakkai (30-90 nach Christus) sagte: «Wenn du eine Pflanze in deiner Hand hast und man dir sagen würde: Siehe der Messias! – so komm und setze sie ein, und hernach gehe hinaus und empfange ihn!» Damit setzte der Rabbiner noch einen weiteren Akzent: hoffen und handeln. Anders als Benn es vermutet, motiviert ein Blick in die Gottes Zukunft Menschen zur Aktion und nicht zum Stillstand.
Eine Strategie für schlimme Zeiten
Zum ersten Mal findet sich das angebliche Zitat übrigens in einem Brief, den Pfarrer Karl Lotz aus Hersfeld am 5. Oktober 1944 an seine Freunde in der «Bekennenden Kirche» schrieb. Der Zweite Weltkrieg war noch in vollem Gange und die Gewaltherrschaft der Nazis ungebrochen. Juden und andere missliebige Menschen wurden verfolgt, schikaniert und sogar ermordet. Das betraf auch die Mitglieder der Bekennenden Kirche, die sich gegen den Nationalsozialismus stellte. In diese Situation hinein schrieb Pfarrer Lotz: «Lassen Sie sich bitte durch mein Schreiben angesichts der gespannten Lage unseres Volkes nicht verdriessen. Wir müssen uns nach dem Lutherwort richten: Und wenn Morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» In seinem Brief tat er so, als müsste jeder das Zitat kennen. Wahrscheinlich war dies eher ein Trick, im Namen des immer noch geschätzten Reformators Hoffnung zu vermitteln. Hoffnung auf ein «Danach», das es in jedem Fall geben würde. Gleichzeitig lud er dazu ein, mitten in den Schwierigkeiten bereits tätig zu werden, also während die Welt noch unterging bereits so zu tun, als wäre es klar, dass der nächste Morgen kommt.
Damit vermittelte Lotz seinen Leserinnen und Lesern Hoffnung und Kraft. Die reichte durch die Kriegszeit bis über den Wiederaufbau hinaus. Und sie reicht bis heute. Der Satz vom Apfelbäumchen ist mehr als ein nettes Sprichwort fürs Poesiealbum. Er ist kein Rückblick auf die Reformationszeit, sondern eine Strategie für das Leben in schwierigen Zeiten. Daraus spricht eine unbändige Hoffnung. Eine Hoffnung, die handelt. In seiner Radioandacht zu diesem Satz fasste der Theologe Klaus Nelissen die Apfelbäumchen-Strategie so zusammen: «Meine Ahnung, worauf es ankommt in diesen Zeiten: Hoffen, Zupacken, Bekennen. Apfelbäumchen pflanzen.»
Zum Thema:
Hoffnungszeichen gegen Trend: Zürcher pflanzen Apfelbaum in Wittenberg
Kirchengeschichte: Luther und der verbrannte Brief
«Von Pontius zu Pilatus»: Luthers prägende Bildsprache
Datum: 06.08.2025
Autor:
Hauke Burgarth
Quelle:
Livenet