Nur eine Persönlichkeitsstörung?
Das Wort Charisma kommt aus dem Griechischen und bedeutet «Gnadengabe». Früher verstand man darunter von Gott gegebene Güter. «Heute verbindet man den Begriff mit einer Offenheit, die manche Menschen ausstrahlen - mit ihrer Körpersprache ebenso wie mit ihrem Verhalten.»
«Keine positive Eigenschaft»
Diese «Gnadengabe» Charisma, landläufig als wichtigstes Führungsattribut bezeichnet, sei streng soziologisch gesehen keine positive Eigenschaft. Das behauptet der langjährige Spitzenmanager bei Henkel und Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Post, der Deutschen Telekom und bei Porsche, Helmut Sihler. «Charismatische Persönlichkeiten würden sich durch übersteigertes Selbstbewusstsein, heilsbringende Visionen, gnadenlose Kommunikationsfähigkeit und eine fanatische Anhängerschaft auszeichnen. Sie sind der subjektiven Überzeugung, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und diese den Menschen mitteilen zu müssen.»Der Professor begründet seine These auch mit dem deutschen Soziologen Max Weber, der die Organisation von Herrschaft Anfang des 20. Jahrhunderts in eine traditionelle (monarchistische), eine rationale (demokratische) und eine charismatische (diktatorische) eingeteilt hatte. Letztere sei historisch gesehen meist zum Scheitern verurteilt, wenn der «erleuchtete» Führer von der Bildfläche verschwinde.
Wechselwirkung
Charisma sei eigentlich keine Eigenschaft, sondern eine eigene Form der Persönlichkeit, die sich aus der Resonanz des Publikums und der Anhänger definiere. Sie sei grundsätzlich weder positiv noch negativ, habe jedoch etwas Gefährliches in sich - wie zahlreiche Beispiele aus der Geschichte (Napoleon, Hitler, Stalin) zeigen würden. Sihler verweist in diesem Zusammenhang auch auf Altkanzler Helmut Schmidt, der in einem Spiegel-Interview im Zusammenhang mit US-Präsident Barack Obama sagte, er möge keine charismatischen Idealisten, weil sie mehr versprechen als sie halten können und «mehr Unheil» anrichten, als sie selber glauben.Unvollständige Persönlichkeit
«Die Zeiten, in denen Charismatiker gross werden, sind nicht immer die glücklichsten», sagt Sihler. «Ich bin daher glücklich, wenn ein Land keine Helden braucht.» Auch in der Wirtschaft seien Charismatiker gefährlich, weil sie nicht teamfähig sind und nicht zuhören können. Sie scheitern daher, wenn sich eine Situation ändert und können letztlich auch keine Nachfolger aufbauen. «Charismatiker haben nie Selbstzweifel und können diese auch nicht abrufen. Sie haben daher keine vollständige Persönlichkeit», so der pensionierte Ex-Manager.Datum: 14.06.2010
Quelle: Livenet / pte