Hoffnung für Ägypten

Machtkampf am Nil

Die anhaltenden Demonstrationen in Kairo und anderen Städten Ägyptens halten die Region in Atem. Wohin driftet das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt? Livenet fragte den gebürtigen Ägypter und Buchautor Mark A. Gabriel.
Mark A. Gabriel: Die radikalen Kräfte in Ägypten sind besser organisiert als die Liberalen. (Foto: zVg.)
Die aktuellen Kundgebungen sind nicht die ersten Proteste gegen Präsident Mubarak. (Foto: Flickr / Hossam el-Hamalawy)

Als ehemaliger Dozent für islamische Geschichte an der Al-Azhar-Universität in Kairo und früher Imam in Gizeh ist Mark A. Gabriel ein profunder Kenner des Islams und der Situation in Ägypten. Nach seinem Übertritt zum christlichen Glauben und Angriffen auf sein Leben musste er seine Heimat verlassen und lebt heute im Westen.

Livenet: Wer sind die Ägypter, die gegen das Regime Mubarak protestieren?
Mark A. Gabriel:
Die Ägypter, die derzeit in Kairo auf die Strassen gehen, repräsentieren die gesamte ägyptische Gesellschaft – von radikalen Islamisten auf der einen Seite bis zu modernen Liberalen auf der anderen Seite. Das Einzige, was diese Menschen vereint, ist, dass sie genug haben von der boshaften Diktatur, die bereits seit 30 Jahren mit all ihrer Korruption, dem Mangel an Freiheit und all den Menschenrechtsverletzungen über Ägypten herrscht.
 
Was treibt die Protestierenden auf die Strasse?
Die Motive und Ziele sind so verschieden wie die Gruppierungen, die an den Demonstrationen beteiligt sind. Das gemeinsame Motiv besteht darin, dass das Mubarak-Regime gestürzt werden soll. Die Muslimbrüder wollen das Land unter die Herrschaft des Islam bringen. Sie wollen Ägypten zu einem «Gottesstaat» machen, der nach der Scharia regiert wird. Wenn es den Muslimbrüdern gelingen sollte, die Macht an sich zu reissen, werden sie nicht nur Ägypten, sondern auch die restliche arabische Welt entscheidend beeinflussen.
Die liberalen Bewegungen hingegen, die an den Demonstrationen beteiligt sind, wollen eine Wende und grundlegende Veränderungen in ihrem Land. Die Diktatur soll ein Ende haben. Sie fordern, dass Ägypten ein freies Land mit einer modernen Demokratie wird, und verlangen die Einhaltung der Menschenrechte. Der Triumph der Tunesier Mitte Januar fördert die Entschlossenheit der Demonstrierenden.
 
Kann die herrschende Partei Mubaraks die Forderungen erfüllen?
Ich glaube nicht. Die Protestierenden verlangen, dass die Nationaldemokratische Partei (NDP) und die Regierung das Volk über seine politische Zukunft entscheiden lassen. Das wird die Partei zu verhindern suchen, da sie sonst ihre Macht verlöre. Dass der Hauptsitz in Kairo am Freitag in Brand gesetzt wurde, zeigt die Wut auf die NDP an.
Was fordern die Protestierenden im Blick auf den Islam?
Nach meiner Einschätzung spielt die Muslimbruderschaft in der Protestbewegung eine wichtige Rolle; sie versucht den Unwillen der ägyptischen Bevölkerung gegenüber dem alten Regime für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Ihre islamistische Ideologie wird Ägypten nicht voranbringen. Es ist daher verständlich, dass westliche Regierungen und namentlich die USA in einem Zwiespalt stecken.


Die Muslimbrüder arbeiten seit ihren Anfängen auf die Wiederherstellung des Kalifats hin. Sie wollen eine islamische Regierung für Ägypten und die Nachbarländer. In den 1950er Jahren versuchte die Bewegung ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Nasser unterdrückte sie, doch sie konnte sich neu formieren. Dabei änderte sie ihre Taktik: Sie hat sich auf den politischen Kampf verlegt und versucht auch westliche Demokratieforderungen auf ihre Mühle zu leiten. Die Früchte davon sehen wir heute in den Strassen Ägyptens.
 
Nehmen Kopten an den Protesten teil?
Das Oberhaupt der Kirche hat die Kopten aufgerufen, nicht an den Demonstrationen teilzunehmen. Am Sonntag sagte Papst Schenuda III., die Kirche wünsche den Schutz Mubaraks. Doch bestimmt sind auch Kopten auf den Strassen.
 
Steckt Ägypten in der Sackgasse?
Ja. Aber es gibt Hoffnung. Wenn die Proteste den Sturz des Regimes zur Folge haben, wird es einen Wandel geben. In jenem Moment wird indes ein noch schwerer Kampf beginnen: das Ringen von Radikalen und Liberalen. Die Muslimbrüder, die die Radikalen anführen, sind besser organisiert und aggressiver als die Liberalen; sie dürften den Kampf gewinnen. Mit der Unterstützung des Westens aber besteht die Chance, dass die freiheitlich gesinnten Ägypter triumphieren und Demokratie tatsächlich etabliert werden kann.

Hinweis:
Neues Buch von Mark A. Gabriel: «Swislam - Islam in der Schweiz»

Datum: 31.01.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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