Im Jahr 2005 erklärten erstmals über 3.000 Personen ihren Austritt aus der evangelisch-reformierten Landeskirche im Kanton Bern. Wie geht es der Kirche diesbezüglich heute? Sie haben von den Kindern gesprochen. Wie wollen Sie bewirken, dass sie auch als Erwachsene in der Kirche bleiben? Wie steht es um das Verhältnis von Katholiken und Reformierten in den drei von Ihnen verwalteten Kantonsgebieten Bern, Jura und Solothurn? Im theologischen Bereich ist es dagegen ganz unterschiedlich. Ich selber habe in jüngster Zeit ökumenisch zu einer unglaublichen Ruhe gefunden. Ich weiss, dass ich mir keine falschen Vorstellungen machen darf. Die römisch-katholische Kirche und auch der Basler Bischof Kurt Koch wiederholen immer wieder: Eucharistische Gastgemeinschaft ist erst möglich, wenn wir uns einig geworden sind. Auf reformierte Seite hingegen geht man davon aus, dass man nicht in allen Bereichen einig sein muss und trotzdem gemeinsam das Abendmahl feiern und die Ämter gegenseitig anerkennen kann. Wenn man diese Positionen akzeptiert, dann redet man klarer miteinander, als wenn man von falschen Vorstellungen geleitet wird. Diese Diskrepanz wurde anlässlich des Besuchs von Papst Johannes Paul II. am katholischen Jugendtreffen im Jahr 2004 in Bern deutlich… Wie ist das Verhältnis zur Bistumsleitung in Solothurn? Welche Spannungen gibt es in Ihrer Kirche? Wie haben Sie selber diese Spannungen ausgehalten? War dies der Hauptbestandteil ihrer Aufgaben? Kipa: Die Schweiz ist ein Einwanderungsland für Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit. Der Bau einer serbisch-orthodoxen Kirche in Belp BE, das zu Ihrem Kirchengebiet gehört, erregt die Gemüter. Der katholischen Theologin Silvia Schroer hat in Tübingen der damalige Bischof Walter Kasper - heute Kardinal und Präsident des Päpstlichen Einheitsrates - die Professur verweigert. Eine solche erhielt sie dagegen an der reformierten Theologischen Fakultät in Bern. Erteilt Bern abgewiesenen katholischen Theologen Gastrecht? Wissenschaft ist nicht eine Frage der Konfession. Auch wir haben Theologinnen, die für die feministische Theologie einstehen und ihren eigenen Weg gehen. Sie müssen ihren Weg zur Kirche finden und wir von der Kirche den unseren zu ihnen. Die Theologie ist dazu berufen, unseren Horizont zu erweitern. Eine theologische Fakultät darf keine Hoftheologie betreiben, die weitergibt, was die Kirchenleitung will. Ich bin Gleichstellungsbeauftragter unserer Kirche. Wir haben gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir haben die familienexterne Kinderbetreuung realisiert. Was ich in meiner Amtszeit nicht mehr umsetzen kann, ist hingegen die geschlechtergerechte Sprache. Für mich ist diese nicht eine ideologische Angelegenheit, sondern Ausdruck eines anständig geführten, gerechten Lebens. Gibt es in der reformierte Kirche viele Frauen in Verantwortungspositionen? Kirche und Wirtschaft - in welchem Verhältnis stehen diese gesellschaftlichen Grössen in ihrem Kirchengebiet zueinander? Wir engagieren uns im Wirtschaftsbereich, kritisch und loyal. Die Gesellschaft lebt von ihrer Wirtschaft, aber die Wirtschaft auch von der Gesellschaft. Im Moment bläst den Kirchen von wirtschaftlicher Seite her ein ziemlich kalter Wind ins Gesicht. Das liberale Denken will die Kirchen in den privaten Bereich verbannen. Die Kirchensteuern für Firmen sind immer wieder ein Thema. Die Wirtschaft darf das Soziale nicht ausklammern. Im sozialen Bereich sind die Kirchen enorm engagiert. Wir fühlen uns von der Wirtschaft etwas missverstanden. Wir haben es vielleicht unterlassen zu zeigen, wo wir kooperationsfähig sind und dass wir uns um die seelische Gesundheit der Menschen kümmern. Was ist das wichtigste Element der Kirche in der heutigen Gesellschaft?
Samuel Lutz: Kirchenaustritte, leere Kirchen - das sind immer wiederkehrende Themen. Wenn 0,5 Prozent austreten, dann muss man auch sehen, dass 99,5 Prozent in der Kirche bleiben. Die Menschen definieren ihr Verhältnis zur Kirche selber. Sie bestimmen, ob sie ihre Kinder in die kirchliche Unterweisung schicken. Wir nennen dies im positiven Sinn: Kirche bei Gelegenheit. Darum haben wir unseren Auftrag vereinfacht formuliert: Verkündigung, Begleitung des Menschen und soziales Engagement. Eine Kirche, die kleiner wird, muss sich nicht überlegen, wo beendet sie ihre Dienste, sondern wie erhält sie ihre Präsenz in der Gesellschaft.
Die Jugend betrachtet gemäss neuer religiöser Untersuchungen Religion als Privatsache. Die Jugendarbeit hat sich darum verändert. Sie wickelt sich über Internet, SMS, über persönlichen Gedankenaustausch ab. Den traditionellen Weg über die Jugendgruppe gibt es nicht mehr. Wir haben zum Glück gute Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die nicht meiner Generation angehören: Diese verstehen die Sprache die Jugend.
Die Bevölkerung hat keine konfessionellen Probleme. Institutionell funktioniert bei uns die Interkonfessionelle Konferenz, der neben den Katholiken, Reformierten und Christkatholiken die jüdischen Gemeinden angehören. Wir führen gemeinsam die Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen, die Spitalseelsorge, die Gefängnisseelsorge und auch die Notfallseelsorge.
Ökumenisch muss es als Herabstufung bezeichnet werden, wenn der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund höchstens eine Lesung halten darf. Ich begreife, dass der Kirchenbund unter diesen Vorzeichen von einer Teilnahme abgesehen hat. Als reformierter Kirchenratspräsident vor Ort habe ich die Einladung angenommen.
Bischof Kurt Koch und ich kennen uns gut. Wir wurden unter ähnlichen Vorzeichen gewählt. In beiden Fällen wählte man gute Theologen, die begreifen, was in Kirche und Gesellschaft vor sich geht, verbunden mit der Hoffnung auf eine Integrationsfigur. Ich bin zu einer solchen Integrationsfigur geworden, welche die Kirche trotz der Spannungen zusammenhält. Bischof Koch steht in der Spannung zwischen Ortskirche und Weltkirche.
In der reformierten Kirche gibt es sehr starke Richtungskämpfe zwischen liberalen, charismatischen, evangelikalen oder traditionalistischen Gruppen. All diese Gruppen wollen eine Gemeinschaft gemäss ihrer Vorstellungen. Das war die Situation, als ich 1996 mein Amt antrat. Ich habe die Botschaft des Synodalrates umgesetzt: Wir wollen eine Kirche sein, die für alle offen ist. Auch wenn die Glaubensüberzeugungen verschieden sind, muss ein gemeinsamer Nenner gefunden werden.
Durch Konzentration und durch Lesen. Ich habe mich bemüht zu verstehen, was die verschiedenen Seiten gesagt und geschrieben haben. Ich war quasi ein Mediator.
Nein. Der Präsident hält die Kirche zusammen und achtet darauf, dass keine Gruppe die Oberhand gewinnt. Er schaut aber auch darauf, dass die Kirche mit einem glaubwürdigen Zeugnis und einem sozialen Engagement in der Öffentlichkeit präsent ist.
Lutz: In Bern entsteht das "Haus der Religionen - Haus der Kulturen". Es gibt den runden Tisch der Religionen. Das sind vertrauensbildende Massnahmen. Beim Aufbau solcher Einrichtungen als Beitrag zum Erhalt des religiösen Friedens müssen die Mehrheitsreligionen mitverantwortlich sein. Die Religionen, die hierher kommen, dürfen nicht diskriminiert werden, genauso wenig wie die Christen, die hier leben. Im Kanton Bern besteht eine erfreulich gute Gesprächskultur zwischen den Religionsgemeinschaften. Sie haben mich auf Belp angesprochen: Es ist klar, dass in einem Dorf solche Spannungen entstehen können. Heute feiern aber dort Katholiken, Reformierte und Serbisch-Orthodoxe gemeinsam Gottesdienst.
In der Theologie gibt es Bereiche, in denen die ökumenische Zusammenarbeit fast kein Problem ist. Im Bereich Altes und Neues Testament arbeitet man zusammen. Darum spielt es keine Rolle, ob Frau Schroer katholisch oder reformiert ist.
In der Tendenz nicht. Es ist ein gesellschaftliches Phänomen. Ich merke, wenn eine Frau Mutter wird, interessiert sie sich mehr für das Kind als für den Beruf. Ich sage: Männerrecht ist Frauensache, Frauenrecht ist Männersache. Es bleibt ein wichtiges Thema.
Im Unterschied zur katholischen Kirche ist die reformierte in sehr vielen Randgebieten stark präsent, wie zum Beispiel im Berner Oberland oder im Emmental. Dort ist die Abwanderung gross. Geschäfte schliessen, die Post hebt Stellen auf und die Kirche spart auch noch. So werden die Pfarrstellenprozente heruntergesetzt. Das erweckt den Eindruck: Auch die Kirche verlässt uns. Aus diesem Grund arbeiten wir ganz bewusst unter dem wirtschaftlichen Aspekt die Beziehungen Stadt und Land auf. Das ist aber erst im Werden.
Die Friedenserhaltung. Wir müssen immer wieder zum Frieden ermuntern. Es wird zu viel kleinlich gestritten. Der Friede ist die Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. Viele Völker wünschen sich nur eins: Frieden. Ohne Frieden ist Gerechtigkeit nicht realisierbar.
Datum: 01.01.2007
Autor: Georges Scherrer
Quelle: Kipa